Der geheimnisvolle Gentleman
hielt dann jedoch abrupt inne.
Olivia drehte sich um und wurde gerade noch gewahr, wie Petty Letty einen tadelnden Blick zuwarf. Petty war wahrscheinlich die Ältere. Das ergab Sinn, da die persönliche Zofe der Dame des Hauses in jedem Haushalt einen höheren Rang als das Zimmermädchen bekleidete. Olivia prägte sich alles genau ein. Sie wollte die Lady sein, die Dane wollte. Sie brauchte nichts anderes zu tun, als Augen und Ohren offenzuhalten.
Erst jetzt bemerkte sie das Kleid, das Petty in Händen hielt. Es war das zweitbeste aus ihrer eilig zusammengeschusterten Aussteuer, ein graues Satinkleid, das zu ihren Augen passte. »Gibt es ein Problem mit meinem Kleid?« Fast hoffte sie, dass dem so wäre. Sie mochte das Kleid nicht besonders, denn es kam ihr langweilig vor und viel zu streng, aber Mutter hatte den Stoff und den Schnitt ausgesucht.
Petty versteifte sich. »Natürlich nicht, Mylady.«
Olivia unterdrückte ein Seufzen. Das Mädchen war fest entschlossen, jede ihrer Bemerkungen falsch zu verstehen.
Petty sprach weiter: »Es wird für heute Abend fertig sein.«
»Für heute Abend?« Die einzigen Pläne, die Olivia für den Abend hatte, war Danes Befehl zu folgen und ihn im Evakostüm zu empfangen. Ihre Haut fing bei dem Gedanken an zu kribbeln, und ihre Gedanken verloren sich in Vorstellungen von all den verschiedenen und wunderbaren Dingen, die möglicherweise passieren würden.
»… Cheltenham, Mylady.«
Olivias Aufmerksamkeit wanderte wieder zu Petty. »Wie bitte?«
Pettys leerer Gesichtsausdruck sprach Bände. »Heute Abend werdet Ihr mit Lord und Lady Cheltenham dinieren, Mylady.« Sie sprach langsam und deutlich, wie mit einem Idioten. Ihr Verhalten wirkte fast schon beleidigend, Olivia kümmerte sich indessen nicht darum.
Sie aßen mit ihren Eltern zu Abend? Dane hatte nichts davon erwähnt. Olivia war verletzt und bestürzt, dass sie weniger gut informiert war als die unverschämte Petty.
»Oh … ja, natürlich. Wie dumm von mir, das zu vergessen.«
Und Petty war wahrlich eine Meisterin des abfälligen Blickes. »Ja, Mylady.«
Olivia schloss kurz die Augen. »Dann macht weiter, Petty und Letty.« Sie verließ ihr eigenes Zimmer und war froh darüber, allein im Flur zu sein. Sie hatte kurz zuvor eine Bibliothek entdeckt. Sie würde den restlichen Nachmittag dort verbringen, fernab von eisigen Dienstboten und Danes geschäftiger Gleichgültigkeit.
Sie warf den Kopf in den Nacken und seufzte tief. Abendessen mit ihren Eltern.
Dabei war es ihr eben gerade erst gelungen, ihr altes Leben hinter sich zu lassen.
Ein anderer Gedanke hellte ihre Stimmung etwas auf. Wenigstens würde sie mit Dane allein in der Kutsche sein.
»Ich hoffe doch, es macht Euch nichts aus, mich mitzunehmen, Lady Greenleigh.«
Dane schaute Marcus an, der Olivia von der anderen Seite der geräumigen Kutsche aufmunternd anlächelte. »Unsinn«, sagte er. »Warum solltest du nicht bei uns mitfahren?«
Olivia warf ihm einen unergründlichen Blick zu, dann sprach sie Marcus an. »Ja, Ihr seid herzlich willkommen, Lord Dryden«, sagte sie leise.
Sie schien heute Abend etwas müde zu sein. Er hatte sie letzte Nacht wahrscheinlich zu lange wach gehalten. Aber sie würde aufleben, wenn sie zu ihrem alten Zuhause kämen.
Er starrte wieder aus dem Fenster, wo die grauen Londoner Straßen verschwommen an ihnen vorüberzogen. Das Wetter war jetzt immer schlecht, die Luft voller Ruß und Nebel. Ein Großteil der gehobenen Gesellschaft hatte sich bereits nach Schottland oder auf ihre Landsitze zurückgezogen. Dane freute sich darauf, Olivia Greenleigh zu zeigen, doch das musste warten, bis die Vier die Angelegenheit mit Georges ›Begleitung‹ geregelt hatten.
Der abendliche Ausflug war nicht mehr als ein Vorwand, sich außer der Reihe zu treffen. Er hatte Lady Cheltenham gebeten, Lord Reardon, die Kobra, und Lord Wyndham, den Falken, einzuladen und dazu noch ein paar angesehene Bekannte zur Tarnung. Nichts weiter als ein ungezwungenes Beisammensein von Verwandten und Freunden, wenigstens in den Augen der Öffentlichkeit.
Außerdem würde es Olivia sicherlich freuen, ihre Mutter wiederzusehen. Frischgebackene Bräute sehnten sich doch nach ihrer Mutter.
Nicht dass er sich zu sehr mit Olivias Wünschen befassen würde. Es wäre nicht gut, sie zu sehr zu verwöhnen, aber es gab keinen Grund, sie von ihren Liebsten fernzuhalten. In wenigen Tagen würden sie in Richtung Kirkall Hall in Schottland aufbrechen, und Olivia
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