Der geheimnisvolle Gentleman
von Widerwillen über Lord Reardons Gesicht huschte.
Lord Reardon … Reardon … »Oh!«, stieß sie aus. »Ihr seid Lord Treason!«
Er verzog das Gesicht. »Nicht mehr, so hoffe ich doch.«
Olivia schlug sich die Hand auf die Lippen. »Nein! Es tut mir leid! Natürlich seid Ihr das nicht. Ich meine, wie könntet Ihr, nicht wahr? Nicht dass ich jemals geglaubt hätte, dass Ihr, ähm, ich meine, ich habe eigentlich bis vor einem Monat noch nie von Euch gehört, aber …« Sie gab auf. »Ach, sei’s drum.«
Lady Reardon starrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ihr macht ein ganz schönes Theater.«
»Ich weiß«, gab Olivia bestürzt zu. Gleich würde die ganz offensichtlich interessante Lady Reardon beschließen, woanders hinzumüssen. »Ich kann nichts dafür.«
Lady Reardon warf den Kopf in den Nacken. »Mir geht’s genauso. Wollen wir nicht irgendwo hingehen, wo wir zusammen entspannt plaudern können?«
»Oje«, sagte Lord Reardon schwach. »Was für ein entsetzlicher Gedanke.«
Lady Reardon hängte sich bei Olivia ein und winkte ihrem Mann mit der anderen Hand zu. »Geh, und spiel ein bisschen mit den anderen Jungs, während ich meine neue Komplizin kennen lerne.«
6. Kapitel
A ls sich alle im Salon eingefunden hatten, blieben Olivia nur wenige Augenblicke, um Namen und Gesichter zusammenzubringen, bevor ihre Mutter sie beiseitenahm. »Olivia, Liebes, ich würde zu gern deine Meinung zu unseren neuen Vorhängen im Musikzimmer hören.«
Olivia warf Lady Reardon ein bedauerndes Lächeln zu und folgte ihrer Mutter, ohne viel Aufhebens zu machen, wenngleich sie genau wusste, dass es keine neuen Vorhänge gab. Sie war schließlich erst gestern Vormittag hier ausgezogen! Und doch, es stand zu bezweifeln, dass sie der Kritik ihrer Mutter während der gesamten Party entgehen könnte. Da war es besser, es ohne Zeugen hinter sich zu bringen.
Olivia folgte ihrer Mutter zum Musikzimmer, das sie nie benutzten. »Du wünschst, unter vier Augen mit mir zu sprechen, Mutter?«
Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. Ein merkwürdiger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. War sie womöglich nervös? Warum bloß?
»Olivia, Liebes, bitte setz dich einen Moment hin.« Sie führte Olivia zu dem in die Jahre gekommenen Sofa, das zwar immer noch gut aussah, auf dem man sich jedoch lieber vorsichtig niederließ. Olivia hockte sich auf die Kante, um nicht Bekanntschaft mit den ausgeleierten Sprungfedern zu machen.
Sie faltete die Hände im Schoß und wappnete sich. Was hatte sie jetzt wieder getan? Es stimmte schon, einige Haarnadeln waren ihr bereits aus der Frisur gerutscht, ein paar hatte sie ganz sicher in der Kutsche gelassen, und der Saum ihres Kleides war zugegebenermaßen immer noch verschmutzt, wenn auch die Rußflecken auf dem grauen Satin kaum
auffielen. Welchen Makel hatte ihre Mutter also möglicherweise noch entdeckt?
»Olivia, ich hätte dieses Gespräch schon gestern mit dir führen müssen. Der Gedanke hat mich die ganze Nacht nicht schlafen lassen, dass ich dich in sein Haus geschickt habe, ohne … nun, ohne mütterliche Vorbereitung auf … auf den Akt.«
Olivia saß völlig regungslos. Was sollte sie nur antworten, wenn ihre Mutter sie fragte, was letzte Nacht passiert war? Du könntest sagen, dass du es genossen hast und kaum erwarten kannst, dass es wieder passiert.
Lady Cheltenham ergriff Olivias Hand. Es war ein ungewohntes und leicht beunruhigendes Zeichen der Zuneigung. Olivia konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, dass ihre Mutter sie jemals berührt hätte, außer um irgendeinen sich lockernden Haarschmuck oder ein verrutschtes Mieder geradezuziehen.
»Livvie …«
Igitt. Das war schon nicht mehr beunruhigend, sondern geradezu abstoßend! Niemand nannte sie Livvie, außer Walt. Das versprach nichts Gutes.
»Livvie«, setzte ihre Mutter erneut an. »Ich hätte sichergehen müssen, dass du dir über die Bedeutung dessen im Klaren warst, was dir bevorstand.« Sie seufzte. »Wie du wahrscheinlich bereits herausgefunden hast, Männer sind eher schlichte Kreaturen, Liebes. Sie sind der abscheulichsten Forderungen fähig. Also, selbst dein verehrter Vater …«
Vater? Um Gottes willen! Olivia brannten die Ohren, und sie widerstand dem geradezu unüberwindlichen Drang, aufzuspringen und aus dem Zimmer zu fliehen. Mit aller Willenskraft lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigene Atmung und ihren Herzschlag und das schwache Gemurmel der Gäste am anderen Ende des Flurs. Schließlich fing
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