Der geheimnisvolle Gentleman
Ich bin ein paarmal hier gewesen und kenne mich aus.«
Olivia lächelte ihm zu, dann hielt sie inne, als sie Kirkall Halls gewahr wurde. »Warum heißt es nicht Kirkall Castle?« Für sie sah es wahrlich wie ein Schloss aus. Die dunklen Mauern erhoben sich weit in den Himmel und wurden zu runden Türmen, deren Umrisse nur unscharf durch den sie umgebenden feuchten Nebel zu erkennen waren. Man hatte das Gefühl, als würden hinter den hohen, schmalen Fenstern Bogenschützen stehen, zum Angriff bereit.
Bei Tageslicht würde es entweder reizvoll oder bedrohlich wirken. In den Abendstunden, so wie jetzt, sah es irgendwie verwunschen aus. Sie lächelte Marcus an. »Wie herrlich. Ich bin die Herrin des Schlosses, und Ihr seid mein Ritter.«
»Wenn ich der Ritter bin, was ist dann Dane?«
Olivia drehte sich zu ihrem Mann um, der den ganzen Tag über kaum mehr als ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. »Der Drache? Das Monster?« Lächelnd wandte sie sich wieder an Marcus. »Der Riese?«
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. Olivia sah, dass Dane sich zum ersten Mal zu ihnen umdrehte. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck aus dieser Entfernung nicht erkennen, aber er lächelte ganz bestimmt nicht.
Olivia lächelte trotzdem und winkte ihm fröhlich zu. Nur weil er schlechte Laune hatte, musste sie sich ihre Freude darüber,
endlich in Kirkall angekommen zu sein, nicht nehmen lassen.
Dann sah sie, wie ein Bursche in die Kutsche stieg, um die kleinen Gepäckstücke herauszuholen. Erschreckt erinnerte sie sich an das Kästchen mit den Stäben. Sie drängte sich durch die Reihen von Dienern, die Gepäckstücke und andere Dinge ins Haus trugen, und erreichte den Burschen gerade, als er vollbepackt aus der Kutsche stieg.
»Ich nehme mein … mein Kosmetikköfferchen.«
Der Bursche betrachtete seine Last. »Es tut mir leid, Mylady, ich glaube, es ist nicht dabei.«
Ja, tatsächlich, Olivia winkte ihn weiter und kletterte selbst in die Kutsche, um unter dem Sitz nachzusehen. Sie hatte es ganz nach hinten geschoben …
Vielleicht war es während der Fahrt etwas verrutscht. Sie kniete sich hin, um gründlich unter dem Sitz nachzusehen.
O nein! Ihr drehte sich der Magen um. Sie krabbelte auf dem Boden herum und schaute auch unter dem anderen Sitz nach. Nichts.
Sie sprang aus der Kutsche und machte sich auf die Suche nach Sumner. »Sumner! Hast du mein Kosmetikköfferchen gesehen?«
Er blinzelte sie etwas irritiert an. »Das geschnitzte Kästchen? Nein, Mylady. Ich habe es nicht mehr gesehen, seit ich in London Euer Gepäck verladen habe.«
Olivia war schlecht. Was wäre, wenn es jemand öffnete? Sie hatte so viel Wert darauf gelegt, es in ihrer Obhut zu wissen, alle hatten mitbekommen, dass es ihr gehörte.
Ganz ruhig, kein Grund, sich aufzuregen. Sie zwang sich, tief durchzuatmen. Sie wussten, dass es ihr gehörte. Deshalb würde es mit Sicherheit in ihrem Zimmer landen, unberührt. Sie war schließlich Lady Greenleigh. Niemand würde es wagen, ihre Sachen zu durchwühlen.
Trotzdem war es besser, sie ginge auf ihr Zimmer, bevor Petty anfing, ihre Sachen auszupacken!
Sie stieß wieder zu Marcus, der sie zu dem Schlafzimmer führte, das traditionell von der Herrin des Hauses benutzt wurde. Petty war schon dort. Sie bürstete Olivias Kleider aus und wies ihre Schwestern an, das Zimmer entsprechend ihrer hohen Ansprüche herzurichten.
Olivia ließ ihren Blick durch den Raum gleiten und schichtete sogar einen Stapel von Hutschachteln um, aber das Kästchen war nirgends zu finden. Es half alles nichts.
»Petty, hast du ein kleines geschnitztes Kästchen gesehen?« Sie breitete die Hände aus, um die Größe anzuzeigen. »Etwa so groß?«
Petty schaute kaum von ihrer Arbeit auf. »Ah, das Geschenk von Mrs B.?«
»G…geschenk? Hast du … hast du reingeschaut?«
Petty hob den Kopf und schaute Olivia mit gerunzelter Stirn an. »Natürlich nicht, Mylady. Es war verschlossen.«
Olivia atmete aus. »Genau. Verschlossen. Es wird also niemand einen Blick riskieren?«
Petty, Letty und Hetty drehten sich zu ihr um und schauten sie merkwürdig an. Ups. Sie streckte die Arme entschuldigend aus. »Es ist nur, weil … weil es eine Überraschung für Seine Lordschaft sein soll. Deshalb muss ich es finden.«
Sumner trat ein. Er trug einen Stapel von Dingen, die umzukippen drohten. Petty sprang hinzu, ihm zu helfen, und drängte dabei ihre Schwestern aus dem Weg, während sie den Kammerdiener süß anlächelte.
»Habt Ihr
Weitere Kostenlose Bücher