Der geheimnisvolle Gentleman
männlichen Eindringlinge verschwunden, und Olivia warf sich in den Sessel vor ihrer Frisierkommode. »Die Haare, Petty. Schnell!«
Wie Dane angeordnet hatte, stand Olivia nur Augenblicke später vollständig angezogen und mit Haaren, die wenigstens für kurze Zeit mit einer peinlich hohen Anzahl von Haarnadeln gezähmt worden waren, im Frühstückszimmer, um ihre ersten Gäste zu begrüßen. Sie hielt es für recht unhöflich von ihnen, sie beim ersten Hahnenschrei gleich mit einer ganzen Liste von Ansprüchen zu überrumpeln, aber offensichtlich bestimmten ein Herzog und eine Herzogin ihre eigenen Spielregeln.
Olivia kam es vor, als würden sie ewig warten. Sie wünschte, sie könnte sich setzen, dabei bestand für sie überhaupt kein Zweifel daran, dass im selben Augenblick, in dem ihr Hintern das Sitzkissen berührte, die pingelige Herzogin eintreten würde.
Die Tür öffnete sich. Olivia stellte sich gerade hin und zauberte ein willkommen heißendes Lächeln auf ihr Gesicht. Kinsworth trat ein. »Mylord, Mylady, Lord und Lady Reardon sind gerade angekommen.«
Olivias Lächeln verwandelte sich in ein echtes. »Lass mehr Gedecke auflegen, Kinsworth.«
Der Butler schaute sie ausdruckslos an. »Ja, Mylady.«
Im selben Augenblick öffnete sich in der Wandverkleidung die Tür für die Dienerschaft und binnen kürzester Zeit war der Tisch wunderschön für sechs Personen gedeckt. Olivia atmete tief ein. Das Personal von Greenleigh brauchte ganz sicher nicht sie, um zu wissen, was zu tun war.
Als Kinsworth zurückkehrte, um Lord und Lady Reardon anzukündigen, sehnte sich Olivia unbeschreiblich nach einem freundlichen Gesicht. Willa entsprach dem voll und ganz und begrüßte Olivia sogar mit einer kurzen, freundschaftlichen Umarmung. »Ich habe gehört, dass die Herzogin von Halswick
hier ist«, flüsterte Willa ihr zu. »Hat irgendjemand daran gedacht, Euch die Sache mit dem Räucherfisch zu sagen?«
O nein! Sie hätte das noch einmal kurz überprüfen müssen. Sollte sie Kinsworth daran erinnern?
Der Gedanke an die unterschwellige Geringschätzung des Butlers ließ sie zögern. Aber Dane hatte ihr aufgetragen, sich persönlich darum zu kümmern.
Im selben Augenblick betrat Kinsworth erneut das Zimmer. Um seine Mundwinkel zuckte ein leicht amüsiertes Grinsen. »Lord und Lady Cheltenham sind angekommen. In Begleitung von Miss Absentia Hackerman.«
Oh, nein. Mutter würde das niemals tun!
Offenbar doch. Lady Cheltenham musste von dem Fest und dem Jagdball durch die Gerüchteküche erfahren und entschieden haben, dass Olivia sie nicht gut rauswerfen konnte, wenn sie und das Mädchen aus dem Hause Hackerman erschienen.
Obgleich der wütende Blick, mit dem Dane Olivia bedachte, dies nahelegte.
Was die Sache noch heikler machte, war die Tatsache, dass Lord und Lady Reardon allem Anschein nach wussten, dass irgendetwas nicht stimmte. Nate warf Dane einen rätselhaften Blick zu, und Willa zwinkerte und schaute leicht irritiert. »Mir … mir war nicht klar, dass ich Eure Eltern so bald wiedersehen würde.«
Olivia schluckte. »Ja, was für eine nette Überraschung.«
Das Personal hatte wie auf Knopfdruck neue Gedecke aus dem Hut gezaubert. Nun war der Tisch für neun Personen gedeckt, als wäre das seit Wochen so geplant gewesen. Kaum stand alles an Ort und Stelle, kündigte Kinsworth den Herzog und die Herzogin von Halswick und Lord und Lady Cheltenham sowie Miss Absentia Hackerman an.
Sie würde Mutter umbringen.
Wenn sie nicht von der überaus runden, üppigen Herzogin von Halswick erdrückt werden würde. Irgendwie hatte Olivia eine etwas dünnere, gemäßigtere Dame erwartet und nicht
dieses in grellen Farben aufgetakelte Wesen, dessen Korsett so eng geschnürt war, dass das fleischliche Übermaß an Weiblichkeit drohte, aus dem sowieso schon hüpfenden Dekolletee zu springen.
Die Herzogin ließ sich auf ihren Stuhl fallen und winkte ihnen allen zu, sich ebenfalls zu setzen. »Setzt Euch. Setzt Euch. Wir können das Vorstellen später erledigen. Ich bin total ausgehungert. Kann die Kutsche nicht ausstehen. Es wird mir immer schlecht.«
Als sie saßen, wurden Teller mit perfekt pochierten Eiern und kunstvoll arrangierten Schinkenscheiben aufgetragen. Tee für die Damen, Kaffee für die Herren, Buttermilch für die Herzogin. Alles geschah so reibungslos, als würden ihre Gedanken gelesen. Olivia fing an, sich zu entspannen.
Die Herzogin schob sich eine große Ladung Ei in den Mund und sprach ungeniert
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