Der gehetzte Amerikaner
ihm nieder und begann ihm die Schuhe auszuziehen.
»Sie brauchen Schlaf, sehe ich, und nicht zu wenig«, sagte sie dabei.
Brady öffnete seinen Kragen und zog das Jackett
aus. Nachdem sie ihm die Schuhe abgestreift hatte, drückte sie ihn
auf das Bett hinunter.
»Und was wird mit Ihnen?« protestierte er.
»Da ist Platz genug für uns beide«,
erklärte sie, legte sich an seiner Seite auf das Bett und breitete
die Decke über sie beide.
Brady war viel zu müde, um mit ihr zu streiten. Er drehte sich
um, betrachtete ihren dunklen Kopf, der da neben ihm auf dem
Kissen lag, und lächelte schwach. »Sie sind ein
merkwürdiges Mädchen«, murmelte er leise.
Auch sie mußte lächeln, und es war, als ob
in ihrem Innern ein Licht angezündet worden sei, dessen Glanz aus
ihren dunklen Augen strahlte. Keine Frau hatte ihn jemals vorher so
angelächelt und so in ihren Bann gezogen.
Er beugte sich vor und gab ihr einen einzigen zarten
Kuß auf ihren leicht geöffneten Mund. Sie drückte ihr
Gesicht an seine Schulter, und wenig später waren sie beide
eingeschlafen.
Ein Klopfen an der Tür weckte ihn und ließ ihn aus
einem tiefen, traumlosen Schlaf auffahren. Anne war gerade dabei, sich
ihr Kleid über den Kopf zu ziehen. Sie drehte sich rasch zu ihm um
und nickte ihm beruhigend zu.
»Es ist nur der Schlafwagenschaffner, der zum Wecken geklopft hat«, erklärte sie leise.
»Sind wir denn schon da?« fragte Brady überrascht.
Als sie bestätigend nickte, schwang er die Beine
aus dem Bett und zog sich die Schuhe an. Er fühlte sich vollkommen
erfrischt und ausgeruht; lediglich sein Magen war leer und knurrte, und
Brady wurde es plötzlich zu seinem eigenen Erstaunen bewußt,
daß er nicht mehr gegessen hatte, seit er aus dem Zuchthaus
ausgebrochen war.
Rasch zogen sie sich an, und als sie damit fertig
waren, öffnete Anne die Tür und spähte vorsichtig hinaus
auf den Korridor. Dann drehte sie sich um, nickte ihm zu, und Brady
nahm die Koffer auf und folgte ihr hinaus.
Als er den Gang entlangging, öffnete
sich die Tür eines anderen Abteils, und ein Fahrgast trat heraus.
Er trug einen kleinen Koffer; Brady blieb stehen, ließ ihn
vorangehen und folgte ihm dann dicht auf den Fersen.
An der Sperre standen diesmal keine uniformierten
Polizisten, aber Brady bemerkte zwei große Kerle in
Regenmänteln und weichen Hüten, die neben dem Zeitungsstand
an der Wand lehnten und offensichtlich die Gesichter aller Leute
musterten, die die Sperre passierten.
Etwa ein oder zwei Meter vor Brady fuhr ein
Träger mit einem kleinen Elektrokarren, der mit Postsäcken
beladen war, vorbei. Als sich der Karren der Sperre näherte,
öffnete jemand einen Durchlaß. Brady zögerte nicht eine
Sekunde, sondern folgte dem Karren, nickte dem Mann an dem Tor einen
kurzen Dank zu und marschierte dann unbeirrt quer durch die
Bahnhofshalle zu dem Schacht der Untergrundbahn.
Er schloß sich dem Strom der Leute an, die in
den Schacht hinabstiegen, und nach einer Weile bemerkte er
plötzlich, daß Anne an seiner Seite ging.
Als sie unten in der Station angekommen waren, setzte
er in einer Ecke die Koffer ab, und sie reichte ihm seinen Trenchcoat.
»Ich werde die Karten lösen«, erklärte sie und trat zu einem Automaten.
Der Bahnsteig war voller Menschen; Brady zog rasch
seinen Mantel über und nahm ganz beiläufig seine Mütze
ab. An ihrer Stelle zog er den Regenhut aus der Tasche und setzte ihn
auf.
Als Anne wieder zu ihm trat, fragte sie ihn: »Alles in Ordnung?«
Er knüllte die
Gepäckträgermütze zwischen seinen Händen und
quetschte sie dann in die Tasche. »Alles in Ordnung«,
erwiderte er, nahm die Koffer wieder auf und folgte ihr zur
UBahn-Sperre.
7
Ihre Wohnung lag im dritten Stockwerk eines alten, grauen Hauses.
Man konnte von dort aus den ruhigen Platz am Kensington Garden
völlig überblicken. Als sie die Tür öffnete, waren
die Vorhänge zugezogen, und der Raum lag im Halbdämmer. Anne
zog sie auf und öffnete das Fenster.
»Die Wohnung muß mal gelüftet
werden«, meinte sie dabei. »Sie hat drei oder vier Wochen
leergestanden…«
Brady setzte die Koffer ab und schloß die Tür.
»Es gefällt mir hier ausgezeichnet«, antwortete er und zog sich den Trenchcoat aus.
»Wie hungrig sind Sie?« fragte sie ihn.
Er grinste. »Ob Sie es glauben oder nicht, aber
ich habe meinen letzten Bissen noch als Gast Ihrer Majestät zu mir
genommen.«
Sie riß
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