Der Geist des Nasredin Effendi
Sie hatte den Schirm nicht ausgeschaltet. Hektisch flossen die Zeichen: Da gab es keine Mono tonie. Ganz anders als bei Omar. Komplette Gehirnregionen dieses Unglücklichen schienen leer, blieben ohne Echo. Andere wieder ant worteten auf die Fragen langsam und verschwommen. Anora dachte das mit ein wenig Schmerz. Sie mochte Omar, diesen gutmütigen schwachsinnigen Mann. Auch der Vater mochte ihn, und er würde ihm fehlen, ohne Zweifel. Also muß ich mit Vater sprechen, bald!
Anora war sich gewiß, sobald dieses Gehirn da aus dem Grab in Chiwa restlos abgefragt sein würde, war ihre Ruhe vorbei. Schon am Morgen würde es theoretisch möglich sein, den zweiten Teil des Ver suchs zu beginnen, und sie würde so bald wie irgend möglich, also gleich in der Frühe, mit Vater sprechen.
Und wenn nicht? Wenn ich ihm einfach den neuen Omar präsen tiere? Eine Heilung! Durch einen Schock vielleicht, könnte man be haupten. Vater würde das leichter verkraften als die Gewißheit, daß die Tochter von launischen Spielereien, wie er ihre Experimente nannte, zu ungewissen, auf jeden Fall aber unheilvollen Versuchen – noch dazu an Menschen! – übergegangen war. Billigen würde er es nicht. Und Anora spürte, noch nicht greifbar, daß sie längst noch nicht alles, was mit ihrem Beginnen im Zusammenhang stand, zu Ende bedacht hatte. Er, was würde er wohl sagen? Der Geliebte einer Herrscherin, vielleicht selbst ein Herrscher, dann Gärtner eines klei nen Anwesens, das eigentlich noch nicht einmal einen Gärtner benö tigte, für schöpferische Arbeit wenig Raum bietend. Aber woher weiß ich, wessen Kopf neben die Leiche dieser Frau geraten ist?
Wieder betrachtete Anora das gütige, intelligente Gesicht! Und wieder glaubte sie einen listigen, schalkhaften Zug zu erkennen. Das war es auch, was dieses Gesicht deutlich von dem Omars unterschied und was ihr ein wenig den Glauben gab, daß Schwierigkeiten von diesem Menschen nicht ausgegangen sein konnten – zumindest nicht für jene, die sich im Leben mit ihm verstanden.
Wie wohl seine Augen sein mögen? Das werde ich nie erfahren…
Je länger Anora das Gesicht betrachtete, desto lebendiger schien es zu werden. Einmal war ihr, als liefe ein Zucken über die geschlosse nen Lider. Dann wieder war ihr, als lächle der Mund, halb zutrau lich, halb spöttisch.
Da fragte Anora laut: »Wer, Mann, bist du? – Hast du sie sehr liebgehabt? Ich weiß schon, so sehr, daß dir der Sinn nicht nach Flucht stand, als man euch entdeckte. Was für Männer wart ihr doch… « Verschwommen kam Anora in diesem Augenblick Akin in den Sinn, Akin, von dem sie einmal – oh, es schien Jahrhunderte her zu sein – dachte, er sei ein solcher Mann… »Wie aber hast du sie kennengelernt, sie, die Stolze, Hochstehende? Bist du selbst einer von ihnen? Ein Emir? Ein Prinz? Fändest du es etwa entwürdigend, daß ich, Anora, eine Frau nur, meine Hände nach dir ausstrecke? Wärst du vielleicht gar lieber in deinem Lehmgehäuse dort in Chiwa geblieben?« Anora schüttelte langsam den Kopf. »Ein Omar bist du nicht, kein Gärtner. Und ich schwöre, du sollst auch keiner werden! «
Je weiter die Erzählung fortschritt, desto unruhiger wurde Nasreddin. Längst hörte er nicht mehr mit geschlossenen Augen zu, sondern starrte die Frau an wie ein Wunder oder – Ungeheuer. Aber noch war er sich längst nicht im klaren, wo
das hinzielte, und erst recht nicht, ob er alles wirklich richtig verstand. Allzuviel Worte gebrauchte sie, die er nie gehört hatte. Aber er ahnte, daß sich hinter alldem etwas Ungeheuerliches verbarg, etwas, was unmittelbar mit seiner Identität zu tun hatte.
Nasreddin beherrschte sich. Wie, wenn es tatsächlich ein Märchen, eine phantastische Geschichte wäre? Aber warum würde sie ihm diese erzählen? Um ihn abzufertigen, loszuwerden? Nein. Er sah in ihr Gesicht. Das ist kein schlechter Mensch.
Was will sie nur mit diesem Kopf, wessen Kopf sollte das sein? Und in Nasreddin wühlte eine dumpfe Ahnung, bohrte ein Gedanke, der ihm so ungeheuerlich vorkam, daß er ihn nicht zu Ende zu denken wagte. So etwas gab es nicht. Oder sie ist eine Hexe, vom Scheitan in finstere Künste eingeweiht… Aber warum von Allah geduldet?
Die Frau hatte wohl die Unruhe in Nasreddin bemerkt. Mehrmals schien es, als wolle sie unterbrechen, aber er hatte sie durch einen Blick, eine Geste immer wieder ermuntert weiterzusprechen. Aber sie bemerkte auch, daß er nicht alles begriffen
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