Der Geist des Nasredin Effendi
versuchte ihr nach Möglichkeit jeden Wunsch zu erfüllen – vielleicht auch aus Angst, sie zu verlieren. Und er war natürlich außerordentlich stolz darauf, daß sie sich zu einer angesehenen Wis senschaftlerin entwickelt hatte.
Daß sie in der Abgeschiedenheit des Anwesens, mehr aber, weil Va ter sich abschloß, wenig Kontakt zu anderen Menschen fand, kaum mit jemandem befreundet war, sah oder empfand er nicht. Er hielt Anora offenbar für glücklich oder wenigstens zufrieden, war doch ihr Beruf gleichermaßen ihr Hobby. Anora ihrerseits tat nichts, um dem Vater diese Ansicht streitig zu machen. Ja, sie fühlte sich wohl und war dem Vater dankbar, daß er ihr den sehnlichen Wunsch, ein eige nes Laboratorium zu besitzen, erfüllt hatte, sie unterstützte bei der Beschaffung von Tieren für Versuche, die er zwar für Frevel hielt – dabei kam selten ein Tier ums Leben –, aber tolerierte. Im Grunde genommen verstand er der Tochter Arbeit nicht. Daß man Altes, Verschollenes ausgrub, um die Geschichte besser zu begreifen, verstand er. Daß auch Gehirnstrukturen, elektronisch aufgezeichnet, damit in Zusammenhang gebracht werden konnten, quittierte er lächelnd, aber keineswegs überzeugt. Wenn es der Tochter Spaß machte, sollte sie eben Ströme registrieren…
Und Anora selbst hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie so, wie sie lebte, glücklich war. Ja, Vater hatte recht, zumindest war sie zufrie den. Sie fühlte sich, wenn auch unabhängig von einem Broterwerb, durchaus berufstätig, hob sich so von der Masse der Frauen des Lan des ab. Sie genoß in Fachkreisen internationale Anerkennung. Und das zurückgezogene Leben bewahrte sie vor alltäglichen Störungen, war genau das, was Anora meinte nach dem Bruch mit Akin, dem Kommilitonen, brauchen zu müssen: Arbeit und Ruhe. Manchmal pochte es in ihr, wollte vielleicht deutlich machen, daß einiges in ih rem Leben nicht zueinander paßte. Und gerade jetzt spürte sie jenes Pochen wieder, in jenen Tagen, in denen sich ihr Denken um Omar drehte. Und das trotz des Entschlusses, den sie an jenem Abend, an dem sie das Hirn des Hingerichteten elektronisch abtastete, gefaßt hatte.
Eine eigentliche Hilfe im Haus und Garten war Omar nicht. Den Garten hielt er zwar in Ordnung, aber nur innerhalb der immer wiederkehrenden Verrichtungen. Und jede Änderung im Gleichklang – ein neuer Baum, ein anderes Beet – erforderte geduldiges Einwei sen und Kontrollieren, so lange, bis der Ablauf der Handlungen Routine, zum Schema wurde…
Aber so war Omar ein Bestandteil des Hauses geworden. Wenn schon Vaters Menschenfreundlichkeit nicht im Großen Früchte ge tragen hatte, so doch vielleicht für dieses benachteiligte Wesen. Na türlich empfand Omar nicht, daß er benachteiligt war. Aber er hätte auch nicht mehr verstanden, müßte er so leben wie Tausende seines gleichen, verspottet, verachtet, getreten in diesem Land. Mit solchen Erwägungen beruhigte Anora ihr Gewissen. Der große, kräftige Körper Omars, bislang von einem allzu schwachen Hirn regiert, könnte einen normalen Geist beherbergen. Könnte! Und da begann der Zweifel. Aber was brachte ein Mißerfolg? Lange überdachte Ano ra dies. Und sie kam zu dem Schluß, daß Omar Schaden im eigentli chen Sinn wohl nicht nehmen konnte. Sein Schwachsinn konnte sich nicht vertiefen, aber vielleicht ließe er sich lindern… Noch eine Menge solcher Wenn und Aber nagten in Anora…
In diesen Tagen perfektionierte Anora ihre reisetechnische Ausrüs tung, wie sie das Drumherum ihres Schmuggelvorhabens bei sich nannte. Schließlich waren die sowjetischen Zöllner keine heurigen Hasen und die Grenzer, was die Sicherheit des Landes anbelangte, ohne jede Inkonsequenz. Aber nirgends in den Begleitpapieren, die sie für die Einfuhr des Kopfes benötigt hatte, stand, daß es sich ledig lich um einen Kopf handelte. Darauf und auf den Unterschied baute Anora, der zwischen einem Mitbringsel und einem Zurückbringsel bestand. Gern gesehen ist, der Geliehenes zurückgibt. Und das, was einem sowieso gehört, eben das Zurückzubringende – kontrolliert man nicht, da ist man großzügig…
Allerlei Wunschbilder entstanden in Anora in diesen letzten Ta gen. Nur mit einem wurde und wurde sie nicht fertig: Wie würde Vater das Verschwinden Omars aufnehmen, das zwangsläufig mit ihrer Reise zusammenfallen mußte?
Anora kam der Zufall zu Hilfe: Unangemeldet stellte sich ein ehe maliger Gefährte des Vaters, ein Hagestolz wie er, aus den
Weitere Kostenlose Bücher