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Der Geist des Nasredin Effendi

Der Geist des Nasredin Effendi

Titel: Der Geist des Nasredin Effendi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kröger
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hatte.
     Nasreddin seinerseits verstand, daß sie hier und da weitschweifiger geworden war, daß sie Dinge einflocht, die scheinbar mit der eigentlichen Geschichte nichts mehr zu tun hatten. Er war ihr dankbar für diese Passagen, gestatteten sie ihm doch, das Gehörte besser zu verkraften, seine Gedanken soweit wie möglich zu ordnen. Unzählige Fragen stauten sich in ihm, doch er hoffte, daß der weitere Verlauf des Erzählens etliche von ihnen klären würde. Aber eine stach heraus: Warum nur hatte sie bei der ersten direkten Begegnung Omar zu ihm gesagt, und warum spielte in ihrem Erzählen jener Omar eine so große Rolle?
     Die Frau stockte, hatte doch einen Augenblick den Faden verloren. Sie leitete ihre Geschichte neu ein.
      Also, sie hatte bei sich beschlossen, daß jener kein Gärtner werden würde. Danach lehnte sie sich zurück, ihr war, als fiele etwas von ihr, eine Last, Omar würde verschwinden, einfach verschwinden. Wen würde es wundern, wenn ein Schwachsinniger fortgebt. Schon einmal hatte er sich verlaufen, man hatte ihn erst nach Tagen gefun den.
    Anoras Gedanken liefen in eine neue Richtung, einem Entschluß zu. Sollte ihre Unternehmung Erfolg haben, vor allem aber einen Sinn, mußte er wieder dorthin gelangen, wo er gewesen war, bevor man ihm dieses jähe, scheußliche Ende bereitet hatte. Würde ich an ders entscheiden, wäre ich grausam, noch grausamer vielleicht als jene, die ihm den Kopf abschlugen.
      Erneut stiegen Zweifel in Anora auf. Was ist schlimmer, jemanden aus seinem Land oder aus seiner Zeit zu nehmen? Lange sann sie nach. Es hing wohl davon ab, wer dieser jemand war… »Wer bist du?« fragte sie erneut. Dann sah Anora den Mann auf einem schwarzen Pferd staubaufwirbelnd über sonnengedörrten Lehm ja gen, sah ihn Mauern überwinden, mit Wächtern ringen und sah auch, bevor die Übermacht der Häscher ihn bezwang, wie er den weißen Schleier der Geliebten aufhob, sie zärtlich küßte…
      Anora lächelte über sich, daß sie sich von dem Klischeebild nicht zu trennen vermochte. Sie hatte sich in den Sessel gekuschelt. Aber das Bild wich nicht, trotz aller vernünftigen Erwägungen, und sie gab sich erneut jenen Visionen hin, die sie schon in dem Grabgewölbe heimgesucht hatten. Schließlich schlief sie ein…
      Noch länger als eine Stunde huschten lautlos, Zeile für Zeile, Sig nale über den Schirm, die auf primitiver Matrize verflossene Bilder, Schmerz und Freude, ein Leben aufschrieben. Und es war, als sage das Lächeln der Schlafenden, daß sie es eines Tages würde lesen kön nen, vielleicht mehr…

    Obwohl Anora von größter Ungeduld erfüllt war, zwang sie sich zu einer beinahe pedantischen Sorgfalt, überprüfte sie bisher Vorbereite tes und Geplantes. Sie hatte den Reiseantrag eingereicht, den alten Kombiwagen des Vaters überholen lassen, und sie wartete nun auf das Visum, ein wenig bangend, daß die Behörden in diesem oder je nem, das sie formuliert hatte, einen Widerspruch finden könnten, was den letzten Teil ihres Planes, Chiwa als Ort des Geschehens zu wählen, undurchführbar gemacht hätte.
      Sie bereitete den Vater schonend darauf vor, daß sie diesmal wohl ein wenig länger wegbleiben würde, wofür er, der für seine Anora lebte, erneut Verständnis zeigte, wenngleich, so schien ihr, er sich mit zunehmendem Alter immer weniger gern von ihr trennte. Und Anora schwur sich, daß sie ihren Lebensstil, die Hälfte des Jahres auf Reisen zu verbringen, nunmehr endgültig ändern würde. Das eine Mal noch, des Experiments wegen…
      Über ihr Verhältnis zum Vater war sich Anora im klaren. Nach Mutters Tod und dem Scheitern seiner humanistischen Ideale müh sam eine Verfolgung abwendend, hatte er sich zurückgezogen in das von seinem Vater Hinterlassene, einen für einen Kurden völlig un üblichen abgelegenen Landsitz. Dieser Großvater Anoras war der eigentliche Außenseiter, was auf den Sohn abfärbte, auch der Hang zum Konspirativen sicher. Während der Alte mit seinem Kapital aus dem Ölgeschäft unauffällig die Unabhängigkeitsbewegung der Kur den unterstützt hatte, trat der Sohn gelegentlich öffentlich als Sym pathisant hervor, was ihn schließlich bei der Obrigkeit in Mißkredit brachte. Ränkeleien aus Stammesfehden und theoretisch weltanschaulichen Gründen innerhalb der Bewegung ließen ihn schließlich resignieren, und er zog sich zurück, widmete sich fortan ganz der Erziehung der Tochter. Er ließ sie in Paris und Moskau studieren,

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