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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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noch einmal angreifen? Das entspricht nicht ihrer Art, und…«
Starkey brach mit einem scharfen Laut ab, als sich seine Augen an
das schwache Licht gewöhnt hatten, sodass auch er die mannshohen
Pfähle erkennen konnte, die die Türken in den weichen Boden der
Hügelkuppe gerammt hatten. Zwischen den Pfählen hingen Gefangene, halbnackte Männer, die man mit weit gespreizten Armen und
Beinen dort festgebunden hatte. Hinter jeden Gefangenen trat nun ein
Fackelträger. Andrej fürchtete schon, die unglückseligen Opfer sollten mit Feuer versengt werden, aber dann erschien Mustafa Pascha
selbst, hob stumm die Hand und die Soldaten rammten ihre Fackeln
in den Boden.
»Das sind unsere Männer«, murmelte Starkey. Seine Stimme zitterte. »Die Gefangenen, die sie während des Angriffs heute Mittag gemacht haben.«
Erneut machte Mustafa Pascha eine knappe, befehlende Geste. Die
Soldaten zogen lange, biegsame Ruten unter ihren Gewändern hervor
und nahmen mit gespreizten Beinen hinter den hilflosen Gefangenen
Aufstellung. Andrejs Hände krampften sich um die Brüstung.
Das Klingen der Zimbeln verstummte, und nur einen Augenblick
später auch das Dröhnen der Kesselpauken.
Dann begannen die Männer mit den Ruten auf die nackten Oberkörper ihrer Opfer einzuschlagen. Andrej schloss die Augen.
Es hatte fast eine Viertelstunde gedauert, bis die Schreie, die von
den Hügeln zu ihnen herabwehten, leiser geworden und schließlich
völlig verstummt waren. Andrej war die ganze Zeit über auf der
Mauer geblieben und hatte sich gezwungen, dem schrecklichen
Schauspiel zuzusehen, schon, weil er das Gefühl gehabt hatte, es
diesen bedauernswerten Männern schuldig zu sein. Der Tod war ihm
nicht fremd, aber dies war keine Art zu sterben, die er akzeptieren
konnte.
Natürlich hatte die Hinrichtung ihre Wirkung nicht verfehlt. Die
Gespräche auf den Mauern waren nach und nach verstummt. Die
Menschen wirkten eingeschüchtert, blass und sehr verängstigt. Die
Hochstimmung über den vermeintlichen Sieg war verflogen, zumindest überall dort, von wo aus das grausame Schauspiel zu sehen gewesen war. Irgendwann hatte Starkey einen Wachsoldaten herbeigewinkt und ihm befohlen, hinunter in die Stadt zu gehen und dafür zu
sorgen, dass die Musik lauter spielte. Er wollte nicht, dass die
Schreie auch dort gehört wurden. So gut Andrej verstehen konnte,
warum er das tat, hasste er ihn doch dafür.
Irgendwann war es vorbei. Der letzte Schrei verstummte, der letzte
Soldat ließ seine Rute sinken, die dem Gemarterten die Haut vom
Fleisch und dann das Fleisch von den Knochen gerissen hatte, zu
erschöpft von der Anstrengung, um die Arme noch einmal zu heben.
Andrej trat ohne ein weiteres Wort von der Brüstung zurück und
stieg in die fackelbeleuchteten Gassen Birgus hinab. Er registrierte
kaum, was rings um ihn herum vorging. Er wusste nicht einmal
mehr, was er zu Starkey gesagt hatte, bevor er ihn verlassen hatte.
Einmal hob er den Kopf, um zu einer heißblütigen Zigeunerin aufzublicken, die - halb nackt und von grölenden spanischen Söldnern
umringt - zum Klang ihrer Kastagnetten auf einem leeren Fuhrkarren
tanzte; ein anderes Mal, um einem Ritter in prachtvoller Uniform
nachzublicken, der so betrunken war, dass er auf dem Weg von einer
Schenke zur nächsten immer wieder hinfiel, dennoch aber mit wässrigem Blick eine Ballade von Francois Villon rezitierte.
Dumpf vor sich hin starrend, watete er durch die allgemeine Fröhlichkeit wie ein müder Wanderer durch einen klebrigen Sumpf. Ein
Teil von ihm wünschte sich regelrecht, dass ihn jemand anrempelte
oder auch nur eine dumme Bemerkung machte, die ihm einen Anlass
lieferte, diese törichten Kinder anzuschreien, sich zu prügeln, mit der
Faust in ihre trunkenen, kichernden Gesichter zu schlagen. Wie
konnten sie auch nur einen Moment lang ernsthaft glauben, sie hätten
dem vieltausendköpfigen Ungeheuer vor den Mauern ihrer Stadt einen Sieg abgetrotzt? Für jedes Haupt, das sie ihm abgeschlagen hatten, waren bereits zwei neue nachgewachsen, aber jeder Mann, der
aus ihren Reihen fiel, würde eine Lücke hinterlassen, die sie nicht
mehr schließen konnten.
Andrej starrte in die lachenden, verzerrten und vom Wein geröteten
Gesichter, doch was er sah, war etwas völlig anderes. Er hatte das
schreckliche Gefühl, einen Blick in die Zukunft zu werfen, eine Zukunft, die möglicherweise nur noch Tage, bestenfalls aber Wochen
entfernt war. Nicht mehr lange, und jeder

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