Der Gejagte
Zweite von ihnen würde
zum Fraß für die Würmer und Maden geworden sein. Statt des Aromas der schweren, gewürzten Weine Kretas würde betäubender
Verwesungsgeruch durch die Gassen ziehen, weil es nicht genug
Platz gab, um die Toten zu bestatten. Statt des roten Scheins der
Freudenfeuer würde das düsterere Rot brennender Häuser den Himmel erhellen. Wie oft hatte er das schon erlebt…
Irgendwann hielt er den Anblick der fröhlich feiernden Menschen
nicht mehr aus. Er ging mit gesenktem Kopf weiter, starrte auf das
abgewetzte Straßenpflaster, auf die schiefen Stufen, die aus dem
weichen Fels geschlagen worden waren, und die abgewetzten Schuhe, die leichtfüßig an ihm vorübereilten. Er wollte keine Gesichter
mehr sehen, kein Lächeln, das vielleicht schon am nächsten Tag für
immer von einer Musketenkugel ausgelöscht oder von einem
Schwert in ein blutiges Grinsen verwandelt werden würde. Er wollte
sich an das alles nicht erinnern!
Ohne dass es ihm selbst bewusst gewesen wäre, hatten ihn seine
Schritte zu dem abseits gelegenen Haus geführt, in dem Abu Dun
und Julia lebten. Hinter den schmalen Fenstern glomm das gelbe
Licht einer Petroleumlampe, und er sah schon von weitem, dass die
Tür einen Spalt breit offen stand, doch aus diesem Haus drangen weder Stimmen noch Gelächter, obwohl er spürte, dass zumindest Abu
Dun anwesend war.
Auf dem letzten freien Stück, das das Haus am Ende der Straße von
der eigentlichen Stadt trennte, beschleunigte er seine Schritte noch
einmal. Abu Dun musste seine Annäherung gespürt haben, denn die
Tür öffnete sich weiter und sein Gefährte trat ins Freie. Hinter ihm
erschien eine zweite, schlankere und kleinere Gestalt.
Noch bevor Abu Dun etwas sagen konnte, drängte sich Julia an ihm
vorbei und trat Andrej mit halb erhobenen Händen und einem Ausdruck widersinniger Hoffnung auf dem Gesicht entgegen. »Herr!
Habt Ihr etwas von Pedro gehört?«
»Es geht ihm gut«, antwortete Andrej automatisch, obwohl er im
Grunde nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob der Junge noch
am Leben war. »Macht Euch keine Sorgen.«
»Du hast mit ihm gesprochen?«, fragte Abu Dun. In seinen Augen
stand keine Hoffnung geschrieben, sondern das sichere Wissen darum, was er von Andrejs Behauptung zu halten hatte.
»Nein«, gestand Andrej. »Aber Sir Starkey und der Großmeister
haben mir ihr Wort gegeben, dass ihm nichts geschehen wird.«
»Und du glaubst ihnen natürlich«, spottete Abu Dun.
Andrej nickte nur und versuchte, Abu Dun mit einem verstohlenen
Blick zu signalisieren, dass es da etwas gab, das nicht unbedingt für
Julias Ohren bestimmt war.
Julia sah ihn so voller Kummer und mühsam unterdrücktem
Schmerz an, dass Andrej nicht die Kraft aufbrachte, ihrem Blick
standzuhalten. Er begann unbehaglich auf der Stelle zu treten und
senkte schließlich den Kopf.
»Bist du nur gekommen, um schlechte Nachrichten zu überbringen?«, grollte Abu Dun.
Die wirklich schlechten Nachrichten, dachte Andrej, hatten sich offensichtlich noch nicht bis zu ihm herumgesprochen. Was ihm allerdings Hoffnung gab. Wenn Abu Dun nichts davon gehört hatte, dass
man ihn kurz nach der Mittagsstunde erhängt im Glockenturm aufgefunden hatte, dann wusste es vermutlich auch sonst niemand in der
Stadt.
In Andrejs Gedächtnis war noch immer bloß ein schwarzes Loch,
wo die Erinnerungen an diese Ereignisse sein sollten. Er fragte sich,
ob sich tatsächlich alles so abgespielt hatte, wie Romegas erzählte.
Vielleicht war er immer noch nicht misstrauisch genug.
Einen Moment lang standen sie in unbehaglichem Schweigen da,
dann wandte sich Andrej mit leiser, verlegener Stimme an Julia.
»Könntet Ihr uns kurz allein lassen? Ich habe etwas mit Abu Dun zu
besprechen.«
Julia wollte gehorsam zurückweichen, doch der Nubier legte ihr
seine gewaltige Pranke auf die Schulter und hielt sie fest. »Sie kann
alles hören, was du mir zu sagen hast«, sagte er grob. »Wir haben
keine Geheimnisse voreinander.«
»Bist du da sicher, Pirat?«, fragte Andrej geduldig. Julia fuhr sacht
zusammen und sah Abu Dun verwundert an, was Andrej als Bestätigung dafür nahm, dass der Nubier doch das eine oder andere Geheimnis vor ihr bewahrt hatte. Doch Abu Dun verstärkte den Griff
um ihre Schulter eher noch und schürzte trotzig die Lippen.
»Ganz sicher«, sagte er. »Was willst du? Bist du gekommen, um
mich davon zu überzeugen, dass deine neuen Freunde in Wirklichkeit nette Burschen sind, denen ich bitter
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