Der Gejagte
Ritter - die zurückliegende Schlacht als Sieg.
Für die jungen Ritter und die Milizsoldaten, die zum ersten Mal in
den Kampf gezogen waren, war es das vermutlich auch gewesen: ein
triumphaler Erfolg, bei dem sie wie der leibhaftig gewordene Zorn
Gottes unter die flüchtenden Feinde gefahren waren.
Im Laufe des Nachmittags hatten Kundschafter weitere Nachrichten
vom Schlachtfeld gebracht. Es schien, als hätten Mustafa Paschas
Truppen tatsächlich katastrophale Verluste erlitten. La Valette hatte
mit seiner ersten Einschätzung Recht gehabt: Die Angreifer hatten
die schiere Wucht, mit der eine Hundertschaft gepanzerter Ritter auf
schweren Schlachtrössern angriff, unterschätzt. Die Männer, die unverletzt zurückgekehrt waren, hatten ihre Toten und Verwundeten
längst vergessen. Alles, was zur Stunde noch zählte, war, die Türken
vertrieben zu haben, diesen übermächtigen Feind, dem der Ruf der
Unbesiegbarkeit vorauseilte.
Andrej war sicher, dass Mustafa Pascha einen solchen Fehler kein
zweites Mal machen würde, und das ausgelassene Feiern und Tanzen
auf den Straßen erfüllte ihn mit Zorn. Weinfässer waren auf die Plätze gerollt worden, überall roch es nach gebratenem Fisch und
Fleisch, Musikanten spielten auf, und Possenreißer grölten zotige
Witze, während übermütige Söldner ihre Musketen in die Luft feuerten und damit wertvolle Munition verschwendeten, die sie nur allzu
bald noch bitter nötig haben würden. Dennoch verzichtete Andrej
darauf, etwas dagegen zu sagen. Sollten sie ruhig feiern. Vielleicht
war es das letzte Mal.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ eine Alarmglocke hinter
Andrejs Stirn schrillen. Rasch drehte er sich um und senkte die Hand
auf den Schwertgriff, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als er
erkannte, dass es weder der Dämon noch jemand anderes war, den er
zu fürchten hatte, sondern Sir Oliver. Wobei Andrej insgeheim allerdings keine Wette darauf gehalten hätte, dass ihm der Engländer in
Wahrheit nicht vielleicht von allen am gefährlichsten werden könnte.
»Sir Oliver«, sagte er. »Solltet Ihr nicht im Kapitelsaal sein und zusammen mit den anderen beten?«
Starkey kam näher und lächelte dabei flüchtig. Das flackernde rote
Licht der Fackeln ließ dieses Lächeln eher wie eine Grimasse aussehen. »Es sind genug da, die beten«, antwortete er. »Wenn Gott unsere Gebete bisher nicht gehört haben sollte, dann macht eine einzelne
Stimme wohl auch keinen Unterschied mehr. Aber was macht Ihr
hier draußen? Haltet Ihr es für klug, Euch in der Öffentlichkeit zu
zeigen?«
»Niemand wird mich erkennen«, behauptete Andrej, selbst ein wenig über die Überzeugung in seiner Stimme verwundert.
Starkey sah ihn einen Moment lang abschätzend an, dann nickte er
widerwillig und trat dicht neben ihn an die Brüstung heran. »Vermutlich habt Ihr Recht«, sagte er. »Selbst ich hatte Probleme, Euch zu
erkennen. Es ist lange her, dass Ihr diese Gewänder getragen habt.«
Andrej reagierte nur mit einer Mischung aus einem Nicken und einem Achselzucken. Starkey war nicht herausgekommen, um Konversation zu betreiben. Er verbiss es sich aber zu fragen, aus welchem
Grund er sich zu ihm gesellt hatte.
Der Blick des Engländers glitt über die Hügel im Osten, die in der
hereinbrechenden Dunkelheit mehr und mehr zu verblassen schienen,
fast, als höre die Welt außerhalb der Stadtmauern allmählich auf zu
existieren. Selbst Andrej fiel es schwer zu glauben, dass jenseits dieser Hügel ein gewaltiges Heer nur darauf wartete, zu einem neuen,
um ein Vielfaches schlimmeren Sturm auf die Stadt anzusetzen.
Eine geraume Weile standen sie schweigend nebeneinander. Dann
fragte Andrej leise und ohne den Engländer anzusehen: »Darf ich
Euch eine Frage stellen, Sir Oliver?«
»Sicher«, erwiderte Starkey. »Wenn Ihr nicht auf meinem Ehrenwort besteht, dass ich sie beantworte.«
»Warum?«, fragte Andrej einfach.
»Es vergeht kein Tag, an dem ich mir diese Frage nicht selbst stelle«, antwortete Starkey.
»Doch nicht nur, weil in der Bibel steht Liebe deinen Nächsten«, vermutete Andrej.
Starkey schenkte ihm einen kurzen, amüsierten Blick und wandte
sich dann wieder dem Ausblick nach Osten zu. »Nein«, sagte er.
»Um ehrlich zu sein - ich weiß es nicht. Und ich glaube, auch der
Großmeister könnte Euch keine bessere Antwort geben. Es erschien
uns einfach richtig, Euch aufzunehmen und abzuwarten, was geschieht. Und wie sich zeigt, war dieser Entschluss
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