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Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Vorwürfe deutlich überwogen.
    Die Zelle lag so tief unter der Erde, dass nicht einmal das Dröhnen
der türkischen Geschütze an ihr Ohr drang. Eingesperrt in vollkommener Dunkelheit und ohne die geringste Möglichkeit, das Verstreichen der Zeit zu messen, kam es Andrej vor, als brächten sie Stunden
in dem winzigen, stinkenden Gelass zu. Seine Gedanken drehten sich
hilflos im Kreis. Er stellte alle möglichen Vermutungen darüber an,
was Abu Dun bloß zu dieser Wahnsinnstat veranlasst haben mochte.
Zum größten Teil waren seine Mutmaßungen blanker Unsinn, der
verbliebene Rest erschreckte ihn dermaßen, dass er sich weigerte,
genauer darüber nachzudenken. Letzten Endes blieb es dabei, dass er
nicht die mindeste Ahnung hatte, was seinen Freund zu dieser Tat
bewogen haben könnte.
    Starkeys Überlegungen schienen sich in eine ähnliche Richtung zu
bewegen. Nachdem sie eine geraume Weile schweigend in der Dunkelheit nebeneinander gesessen hatten, fragte er: »Glaubst du, er hat
das von Anfang an vorgehabt?«
    Die Frage war so abwegig, dass Andrej eine Weile brauchte, um sie
zu verstehen, und noch einmal so lange, bis ihm eine Antwort eingefallen war. »Was? Romegas aus dem Kerker zu befreien? Warum
sollte er das tun?«
    »Die Frage muss wohl eher lauten«, verbesserte ihn Starkey, »warum hat er das getan?« Andrej konnte hören, wie er neben ihm
schnaubend Luft aus der Nase blies. »Vielleicht hat ihm der Schmerz
um den Verlust des Jungen den Verstand verwirrt.«
    Das war eine Möglichkeit, die Andrej bereits ernsthaft in Betracht
gezogen, aber auch wieder verworfen hatte. »Abu Dun gehört nicht
zu den Männern, die unter Druck zerbrechen«, entgegnete er.
    Starkey gab ein undefinierbares Geräusch von sich. »Jeder Mensch
zerbricht, wenn der Druck nur groß genug ist«, widersprach er. »Aber vielleicht war es ja auch gar nicht nötig, dass er zerbricht. Vielleicht hatte er das von Anfang an geplant.«
    »Um sich an Romegas zu rächen?« Andrej schüttelte abermals den
Kopf, so heftig, dass der Engländer es hören musste. »Ich war ja
nicht anwesend und möchte auch nichts Genaueres darüber wissen,
aber ich glaube nicht, dass Abu Dun ihm noch etwas hätte antun
können, was Euer Foltermeister nicht bereits getan hat.« Starkey zog
es anscheinend vor, nichts darauf zu erwidern, aber sein Schweigen
war Andrej Antwort genug, sodass er fortfuhr: »Vielleicht wäre das
der richtige Moment, Sir Oliver, mir zu sagen, was Ihr von Romegas
erfahren habt.«
    »Bedauerlicherweise nicht sehr viel«, antwortete Starkey. Andrej
entnahm dem Klang seiner Stimme, dass er die Wahrheit sagte. »Allem Anschein nach weiß er selbst nicht genau, was ihm zugestoßen
ist. Er behauptet, jemand sei durch das Fenster in sein Quartier eingestiegen und habe ihn im Schlaf überfallen - was schwer zu glauben
ist. Romegas’ Gemächer liegen in der obersten Etage des Turmes
und der Zugang durch das Treppenhaus wird streng bewacht. Wer
immer sich unbemerkt in sein Zimmer schleichen wollte, der müsste
sich entweder unsichtbar machen oder fliegen können.«
    Andrej wiegte im Dunkeln nur nachdenklich den Kopf. Mittlerweile traute er dem Dämon sowohl das eine als auch das andere zu.
»Und dann?«, fragte er.
    »Nichts dann«, antwortete Starkey mit einem Achselzucken, bei
dem sein schulterlanges Haar raschelnd über die Kleidung strich. »Er
behauptet, er habe nur getan, was nötig wäre. Die Frau sei eine Hexe,
die sich mit den Dienern des Teufels eingelassen hätte, und er habe
ihr gezeigt, was sie erwartet, wenn sie erst endgültig zu ihrem Herrn
heimgekehrt sei.«
    »Das waren seine Worte?«, vergewisserte sich Andrej.
»Ja. Am Anfang war ich der Meinung, er würde den Verrückten
spielen, um der Folter zu entgehen oder an unser Mitgefühl zu appellieren. Aber glaub mir: Das Verhör war wirklich streng. Niemand
hätte das spielen können. Irgendetwas ist mit Romegas geschehen.
Ich weiß nicht, was, aber es macht mir Angst. Ich mochte ihn nicht
unbedingt, genauso wenig wie du und die meisten anderen hier, aber
er war trotz allem ein Mann von Ehre. Er hätte sich eher die Hände
abhacken lassen, bevor er etwas getan hätte, das den Regeln unseres
Ordens und seinem Glauben widerspricht. Aber was erzähle ich dir
das? Wenn es in unserer gemütlichen kleinen Unterkunft jemanden
gibt, der wissen müsste, was mit Romegas geschehen ist, dann bist
du es, oder?«
    Genau das war das Problem. Andrej hätte es

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