Der Gejagte
wissen müssen, aber er
wusste es nicht.
»Nein«, sagte er knapp.
Starkey ließ einen Moment verstreichen und Andrej spürte regelrecht, wie er ihn in dieser Zeit durchdringend in der Dunkelheit anstarrte. »Dann haben dir die Dokumente, die ich dir gezeigt habe,
nicht geholfen?«, fragte er schließlich. Er klang enttäuscht.
»Zum Teil«, antwortete Andrej ausweichend. »Sagen wir: Ich habe
vieles geahnt und Eure Aufzeichnungen wandelten manche dieser
Ahnungen in Gewissheit um.«
»Aber du klingst nicht so, als seiest du froh darüber.«
»Jedenfalls scheint Ihr und La Valette mit Eurer Einschätzung vor
drei Jahren Recht gehabt zu haben«, erwiderte Andrej bitter. »Falls
es Euch ein Trost ist: Wir sind wohl nicht vom Teufel besessen.
Möglicherweise ist es nichts anderes als eine Krankheit. Anscheinend weiß niemand so genau, wo sie herkommt, wie man sie sich
zuzieht oder was man dagegen tun kann. Es beginnt mit Fieber und
Krämpfen. Von tausend Menschen, die sie bekommen, überlebt sie
im besten Fall einer. Danach… ist man so wie wir.«
»Nein«, widersprach Starkey. »Die meisten sind nicht wie du, Andrej. Ich dachte, du hättest die Schriften aufmerksamer gelesen. Die
meisten sind wie der Dämon. Vielleicht nicht so stark und nicht so
gefährlich, aber ebenso grausam.«
Wie hätte Andrej ihm widersprechen können? Während der langen
Zeit, die er zusammen mit Abu Dun durch die Welt gezogen war,
war er auf etliche andere seiner Art gestoßen, doch mit Ausnahme
des Nubiers waren sie alle so gewesen, wie Starkey behauptete.
»Vielleicht werden Menschen nun einmal so, wenn sie keine Angst
mehr vor dem Tod haben müssen und wissen, dass sie stärker sind
als alle anderen«, sagte er leise.
»Warum seid ihr dann nicht so geworden?«, erkundigte sich Starkey.
»Und wer sagt Euch, dass wir es nicht sind?«, gab Andrej gereizt
zurück. »Vielleicht täuscht Ihr Euch ja in uns.«
»Wohl kaum«, antwortete Starkey. »Abu Dun und du, ihr könntet
über ganze Länder und Völker herrschen, wenn ihr das gewollt hättet. Stattdessen macht ihr Jagd auf all die, die das versuchen.«
»Vermutlich haben wir einfach schon zu oft gesehen, wie so etwas
endet«, antwortete Andrej. Die Worte kamen über seine Lippen, ohne dass er es beabsichtigt hatte. Erst nachdem er sie ausgesprochen
hatte, wurde ihm klar, dass sie vielleicht sogar wahr waren. Vielleicht hatte er soeben eine Wahrheit ausgesprochen, derer er sich
bisher selbst nicht bewusst gewesen war. Vielleicht bekämpfte er
andere Vampyre, weil er tief in seinem Inneren stets gespürt hatte,
dass dies der einzige Weg war, nicht selbst so zu werden wie sie.
Er räusperte sich unbehaglich und wechselte das Thema. »Romegas
hatte kein Fieber, soviel ich weiß. Und das wirre Zeug, das er
manchmal von sich gab, hatte wohl weniger mit einer Krankheit zu
tun…«
Starkey lachte leise. »Du siehst es immer noch als eine Krankheit,
nicht wahr? Gefällst du dir in der Rolle des Verfluchten oder hat man
dir nie gesagt, dass Fieber auch ein reinigendes Feuer sein kann?
Vielleicht ist es nur die Pforte, durch die man gehen muss, um zu
einer weiteren Stufe zu gelangen. Und es mag sein, dass diese Stufe
so hoch ist, dass es nur einem von tausend gelingt, sie zu erklimmen.«
Andrej setzte zu einer Antwort an, doch da hörten sie das erlösende
Scharren des Riegels und die Tür wurde kraftvoll aufgezogen. Flackerndes rotes Licht und aufgeregte Stimmen drangen zu ihnen herein.
Andrej sprang hastig auf und erinnerte sich gerade noch im letzten
Moment an die baulichen Gegebenheiten, sodass es ihm gelang, den
Kopf einzuziehen und nicht gegen die Decke zu stoßen. Nach der
Zeit, die sie in völliger Dunkelheit zugebracht hatten, blendete das
Licht der Fackeln so sehr, dass er zunächst nur Schemen wahrnahm.
Doch er erkannte die Stimme La Valettes, der etwas rief, was er nicht
verstand und auch gar nicht verstehen wollte, sowie die von drei oder
vier weiteren Männern, die aufgeregt durcheinander redeten. Das
Klirren ihrer Waffen verriet ihm, dass es sich um Soldaten handelte.
Andrej half Starkey auf die Füße zu kommen und schob ihn mit
sanfter Gewalt als Ersten durch die Tür, bevor er selbst die Zelle verließ. Seine Augen gewöhnten sich rasch an die veränderten Lichtverhältnisse. La Valette war tatsächlich nicht allein gekommen, sondern
hatte den jungen Novizen mitgebracht, der vorhin zu ihnen in den
Kapitelsaal gekommen war, und dazu noch ein
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