Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gejagte

Der Gejagte

Titel: Der Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
ein so tiefer Kummer und Schmerz mitschwangen, dass Andrej ein kurzes, eisiges Frösteln verspürte. Sooft
er die junge Frau auf dem Markt oder am Hafen getroffen hatte, war
sie stets fröhlich und guter Laune gewesen. Er konnte sich kaum erinnern, sie irgendwann einmal anders als lachend erlebt zu haben,
vor allem in Abu Duns Gesellschaft. Aber das war nur die eine Julia.
Es gab noch eine andere, ernstere, die den Tod ihres Mannes noch
lange nicht verwunden hatte und es vielleicht auch niemals tun würde.
»Am Ende wirst du tagsüber aufs Meer hinausfahren, und wenn
Gott ein Wunder geschehen und dich lebend zurückkommen lässt,
schindest du dich des Nachts noch in einer Ölmühle oder auf dem
Feld, um etwas dazuzuverdienen«, fügte Julia hinzu. Ihre Worte hatten wohl scharf klingen sollen, aber sie hörten sich eher resignierend
an - bitter.
»Ernährt das Fischerhandwerk denn seinen Mann nicht mehr?«,
fragte Andrej überrascht. Abu Dun warf ihm einen zornigen Blick
zu, der ihm bedeutete, endlich zu schweigen oder zumindest das
Thema zu wechseln, aber Julia beantwortete die Frage.
»Wir haben kein eigenes Boot, Herr. Das Meer hat es zusammen
mit Pedros Vater verschlungen.«
Andrej sah den Nubier überrascht an. Abu Dun und er waren niemals reiche Männer gewesen. Geld hatte sie stets nur insofern interessiert, als seine Bedeutung mit der Zeit, die verging, zu wachsen
schien. Seit der Nubier - nicht unbedingt freiwillig - sein Leben als
Sklavenhändler und Pirat aufgegeben hatte und gemeinsam mit ihm
durch die Welt zog, hatten sie selten mehr als ein paar Münzen in
ihren schmalen Beuteln gehabt und auch nicht mehr gebraucht. Dennoch wusste er, dass es für Abu Dun ein Leichtes gewesen wäre, Julia und ihrem Sohn zu einem neuen Schiff zu verhelfen. Obwohl er
die Frage nicht laut aussprach, musste Abu Dun sie deutlich in seinen
Augen gelesen haben, denn er schüttelte den Kopf. Der Blick, den er
flüchtig in Julias Richtung warf, bevor er sich wieder an ihn wandte,
sprach Bände. »Weiber!«, sagte er leise. »Ich habe es aufgegeben zu
zählen, wie oft ich ihr angeboten habe, mich um ein neues Fischerboot zu kümmern.«
»Und?«, wunderte sich Andrej. Fragend sah er die junge Frau an.
»Sie will es nicht«, antwortete Abu Dun an Julias Stelle. Seine
Stimme klang zornig, aber zugleich auch resigniert. »Vielleicht
kannst du ihr ja ins Gewissen reden. Immer wenn ich auf das Thema
komme, versteht sie plötzlich meine Sprache nicht mehr.«
Julias Augen lachten, aber ihr Gesicht blieb ernst. »Nein«, sagte sie
ruhig, aber wieder im gleichen Tonfall, in dem sie zuvor mit Pedro
gesprochen hatte - einem, der keinen Widerspruch duldete. »Du hast
schon genug für uns getan, schwarzer Mann.«
Wieder blitzte Abu Duns Raubtiergebiss strahlend weiß auf. Andrej
hatte erlebt, wie Abu Dun Männern, die ihn als schwarzen Mann bezeichnet hatten, allein für diese Worte den Kiefer gebrochen hatte.
Aus Julias Mund schien er sie als Liebkosung zu betrachten.
»Aber er könnte doch…«, begann Pedro und verstummte sofort
wieder, als ihn ein eisiger Blick aus den Augen seiner Mutter traf, die
unvermittelt den größten Teil ihrer Freundlichkeit verloren zu haben
schienen. Dennoch raffte der Junge all seinen Mut zusammen und
setzte erneut an: »Wir könnten es doch bezahlen. Vater hat mir eine
Menge über das Fischen beigebracht und ich bin alt genug. Ein paar
gute Fänge, und in zwei oder drei Jahren…«
»Nein«, unterbrach ihn Julia erneut. Sie schüttelte heftig den Kopf.
Ihre Stimme wurde leiser, sank zu einem tonlosen Flüstern herab.
Andrej hatte das Gefühl, dass es plötzlich kälter wurde.
»Ich will es nicht«, fuhr sie fort. »Nicht geschenkt, nicht geliehen,
nicht einmal, wenn das Meer unser eigenes Boot wieder zurückgäbe.
Ich habe schon die eine Hälfte meiner Familie an die See verloren.
Ich will nicht, dass sie auch noch die andere Hälfte bekommt.« Sie
machte eine abschließende Geste. »Und jetzt genug von diesem
Thema.«
Unbehagliches Schweigen machte sich in dem kleinen Raum breit.
Pedro warf seiner Mutter noch einen trotzigen Blick zu, senkte dann
aber stumm den Kopf und begann seine Suppe zu löffeln. Auch Abu
Dun schien nicht zu wissen, wohin er seine Augen richten sollte.
Schließlich räusperte sich Julia und fragte mit einem wenig überzeugenden Lächeln: »Schmeckt Euch die Suppe nicht, Herr?«
Andrej griff erschrocken nach seinem Löffel und beeilte sich, den
Kopf zu

Weitere Kostenlose Bücher