Der Gejagte
erkoren
hatte.
Andrej schob den Gedanken von sich. Er war nicht gekommen, um
über Abu Dun nachzudenken, sondern, weil er es versprochen hatte
und weil sich etwas in ihm nach einem kleinen bisschen Normalität
sehnte. Andrej verspürte urplötzlich Neid auf seinen Freund und
schämte sich dafür.
Julia nahm Platz, faltete die Hände über dem Tisch und sprach mit
geschlossenen Augen ein kurzes Tischgebet, an dem auch Pedro und
Andrej teilnahmen. Abu Duns Hände lagen flach nebeneinander auf
der Tischplatte und seine Lippen bewegten sich nicht, aber er respektierte den Glauben seiner Frau und versuchte nicht, sie davon abzubringen; so wie Julia ihrerseits nie ein Wort darüber verlor, dass Abu
Dun einer anderen Religion angehörte.
Nachdem sie geendet hatte, warf Julia Andrej einen sonderbar
scheuen Blick zu, den er erst nach kurzem Nachdenken verstand. Für
Pedro und die meisten anderen in dieser Stadt war er zuallererst Ritter und Soldat. Julia hingegen sah vermutlich eher so etwas wie einen
Geistlichen in ihm. Da La Valette ihn vor allem wegen seiner unübertroffenen Fähigkeiten als Schwertkämpfer aufgenommen und
auch schon oft genug als solchen eingesetzt hatte, fühlte sich Andrej
im Grunde noch immer als das, was er zeit seines Lebens gewesen
war: als Krieger und Söldner. Manchmal vergaß er, dass er das Gewand eines Johanniters trug und dass diese Ritter zuerst einmal
Mönche waren und dann Soldaten. Auch wenn der eine oder andere
unter ihnen das manchmal anders zu sehen schien. Julias scheue Blicke irritierten ihn und er fragte sich, was Abu Dun ihr wohl über ihn
erzählt hatte. Vielleicht fürchtete sie, in seinen Augen nicht lange
oder nicht inbrünstig genug gebetet zu haben. Andrej konnte nur mit
Mühe ein Lächeln unterdrücken, als er sich vorzustellen versuchte,
was Julia sagen würde, wenn sie wüsste, wer er wirklich war. Und
vor allem, was.
»Greift zu«, sagte Abu Dun in das unbehaglich werdende Schweigen hinein. Er wies auf den Topf in der Mitte des Tisches und fügte
mit einem Grinsen, das sein strahlend weißes Gebiss aufblitzen ließ,
hinzu: »Lass es dir schmecken. Es gibt Fischsuppe, wie immer, wenn
wir hohen Besuch erwarten. Du weißt ja, da kommt alles rein, was
den Tag über auf dem Markt in der Sonne gelegen hat und irgendwie
unverkäuflich war.«
Andrej lachte leise und Julia fügte in übertrieben bissigem Ton hinzu: »Dann hätte ich dich wohl mit in den Topf stecken müssen, altes
Schandmaul.« Sie wandte sich in entschuldigendem Ton an Andrej:
»Der Fisch ist frisch. Pedro hat ihn erst vor zwei Stunden gefangen.«
»Daran hatte ich auch nicht gezweifelt«, sagte Andrej und zog übertrieben schnüffelnd die Luft ein. »Es riecht köstlich.«
Er drehte sich zu Pedro um. »Du hast diesen Fisch gefangen?«
»Wie fast jeden Tag«, antwortete Pedro, wobei er den Stolz in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken konnte. Seine Augen leuchteten.
»Ich fange schon seit Jahren unten am Hafen Fische. Und im Sommer werde ich das erste Mal mit den anderen hinausfahren.«
Andrej nickte zwar anerkennend, zuckte aber insgeheim zusammen
und hoffte nur, dass man ihm sein Erschrecken nicht allzu deutlich
ansah. Es würde keinen weiteren Sommer geben. Nicht für Pedro,
nicht für seine Mutter, für niemanden auf der Insel.
Darüber hinaus war er über die Worte des Jungen erstaunt. Pedro
war fünfzehn Jahre alt und noch dazu groß und kräftig für sein Alter.
Andere Knaben fuhren schon seit Jahren mit ihren Vätern hinaus, um
die schwere und gefährliche Arbeit auf hoher See zu erlernen. Er
hütete sich allerdings, eine diesbezügliche Frage zu stellen, schon,
um Pedro nicht in Verlegenheit zu bringen. Doch Julias Reaktion auf
diese Ankündigung lieferte ihm die Antwort.
»Das kommt nicht in Frage«, sagte sie, nicht einmal streng, aber in
einem Ton, der trotz aller Freundlichkeit keinen Widerspruch zuließ.
»Du wirst einen anständigen Beruf erlernen.«
Pedro zog ein beleidigtes Gesicht und beugte sich über seinen Teller, murmelte aber: »Fischer ist ein anständiger Beruf. Fast alle hier
leben davon.«
»Ja«, antwortete Julia scharf. »Und deshalb müssen sie auch jeden
Morgen hinausfahren und ihr Leben aufs Spiel setzen, nicht wahr?«
Es war Pedro anzusehen, dass er erneut zu einem Widerspruch ansetzte. Dann aber überlegte er es sich und beugte sich noch tiefer
über seinen Teller. Julia bedachte ihn mit einem drohenden Blick, in
dem zugleich aber auch
Weitere Kostenlose Bücher