Der Gejagte
sah La Valette an, während er antwortete, nicht Romegas. »Vielleicht sollten wir dieses Gespräch an einem anderen Ort…«
»Ich habe diesen Toten hier heruntergeschafft, damit ihn niemand
sieht und neugierige Fragen stellt«, fiel ihm Romegas ins Wort.
»Und vor allem, damit niemand das hier sieht.« Er zog die Decke
noch ein kleines Stück weiter fort.
Andrej musste nicht hinsehen, um zu wissen, was der Ritter meinte.
Die schreckliche, tiefe Wunde in der Kehle des toten Jungen hatte
längst aufgehört zu bluten. Das Salzwasser hatte sie so sauber ausgewaschen, dass man erkennen konnte, dass der Hieb den Jungen
tatsächlich beinahe enthauptet hätte. Andrej erinnerte sich, seine Augen geschlossen zu haben, als er ihn im Sand abgelegt hatte, nun aber
standen sie wieder offen. War sein Mörder vielleicht zurückgekommen und hatte das getan, um den Anblick umso schrecklicher wirken
zu lassen? Er traute eine solche Ungeheuerlichkeit aber auch durchaus Romegas zu. In ihnen war noch immer derselbe, abgrundtiefe
Schrecken zu lesen, den Abu Dun und er am vergangenen Abend
darin erblickt hatten.
Am Strand, im hellen Licht des Tages und in Abu Duns Begleitung,
war ihm der Anblick schon entsetzlich genug vorgekommen. Jetzt, in
der Dunkelheit und Einsamkeit dieses Raumes, der etwas vom Vorhof der Hölle hatte, und in Begleitung seines Erzfeindes Romegas
und zweier alter Männer, erschien ihm der Ausdruck in den Augen
des toten Jungen wie der eines Menschen, der in seinen letzten Augenblicken dem Teufel selbst ins Gesicht geschaut hatte.
»Ihr habt diesen Jungen also am Strand gefunden?«, vergewisserte
sich Starkey. »Gestern Abend? Und Ihr habt ihn dort zurückgelassen?«
Andrej nickte stumm.
»Dann stellt sich die Frage, wer ihn hierher gebracht hat, und warum«, fuhr Starkey fort. Seine Stimme war plötzlich gar nicht mehr
freundlich, sondern hatte einen kalten, fast schneidenden Ton. Andrej
sah ihn überrascht, aber auch alarmiert an. Er antwortete immer noch
nicht, warf aber einen Blick in Romegas’ Richtung. Starkey schüttelte heftig den Kopf.
»Chevalier de Romegas genießt unser vollstes Vertrauen, Delãny«,
sagte er. War es Zufall, dachte Andrej, dass er den Chevalier nun
plötzlich wegließ? »Er weiß, was geschehen ist, und auch, was Ihr
über den Attentäter zu wissen glaubt.«
Diese Wortwahl gefiel Andrej noch sehr viel weniger als das, was
Starkey zuvor gesagt hatte.
»Welche Waffe vermag eine solche Wunde zu verursachen?«, fragte Romegas herausfordernd. Er beugte sich vor und wies mit Zeige-
und Mittelfinger der linken Hand in Richtung der grässlichen Schnitte. »Welches Wesen vermag solche Wunden zu schlagen?«
Bevor Andrej antwortete, wandte er sich noch einmal mit einem
ebenso fragenden wie verwirrten Blick an La Valette, doch der
Großmeister starrte ihn nur ausdruckslos an. Also gut, dachte er trotzig, letzten Endes war es seine Entscheidung. »Kein Mensch«, sagte
er knapp.
Romegas lachte böse, als hätte er genau diese Antwort erwartet.
»Kein Mensch, so?«, erwiderte er höhnisch. »Also nehme ich an, Ihr
wisst, was es war? Vielleicht ein Gespenst? Ein böser Geist, den uns
der Sultan geschickt hat, um unsere Herzen mit Furcht zu erfüllen?«
»Etwas in dieser Art, ja«, antwortete Andrej gelassen.
Romegas lachte noch abfälliger. »Oder vielleicht nur ein geschickter Attentäter, der will, dass wir genau das glauben?«, gab er zurück.
Seine Augen leuchteten triumphierend, während er Beifall heischend
zuerst La Valette und dann den Engländer ansah. »Ein Attentäter,
wie ich hinzufügen möchte, der ganz offensichtlich über hervorragende Ortskenntnisse verfügt - oder einen Verbündeten unter uns
hat.«
Andrej konnte sich nicht mehr beherrschen. »Was wollt Ihr damit
sagen?«, schnappte er.
»Nichts anderes als das, was es heißt«, erwiderte Romegas trotzig.
Seine Hand senkte sich auf den Schwertgriff. »St. Angelo ist eine
hervorragend gesicherte Festung. Niemand vermag ohne Hilfe hier
einzudringen, und erst recht vermag es niemand, die Leibwache unseres Großmeisters zu töten und wieder zu verschwinden, ohne auch
nur eine Spur zu hinterlassen.«
Andrej deutete auf den Toten, wobei er es vermied, direkt in dessen
Gesicht zu blicken. »Wenn das keine Spur ist, Romegas«, sagte er
verächtlich, »wie nennt Ihr es dann?«
»Die Frage ist eher, wie nennt Ihr es?«, wollte Starkey wissen.
»Eine Warnung?«, murmelte Andrej. »Oder eine
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