Der Gejagte
kennt ihn doch kaum.«
Andrej blieb ihm die Antwort auf diese Frage schuldig - vielleicht,
weil er sie selbst nicht wusste. Möglicherweise lag es an dem Toten,
den Abu Dun und er an der Küste gefunden hatten und der nun auf
dem Tisch im Nebenzimmer lag, möglicherweise auch an der Erinnerung an den weinenden Novizen, die immer wieder vor seinem geistigen Auge auftauchte. Vielleicht aber erinnerte Pedro ihn an einen
anderen Jungen, den er vor sehr langer Zeit einmal gekannt hatte.
Auch dieser Knabe war ihm fast fremd gewesen und er hatte ihm
seinen Schutz versprochen. Er hatte dieses Versprechen nicht halten
können und der Junge hatte für das Vertrauen, das er Andrej schenkte, einen fürchterlichen Preis gezahlt - einen Preis, der tausendmal
schlimmer war als der Tod.
»Also gut«, seufzte Starkey, als Andrej nichts sagte und er sein
Schweigen möglicherweise falsch deutete. »Wenn es so wichtig für
Euch ist, dann werde ich noch einmal mit dem Großmeister sprechen
und sehen, was ich für Euch tun kann. Aber ich verspreche Euch
nichts.«
22. Mai 1565, zur Mittagsstunde auf der provenzalischen Bastion
der Befestigung von Birgu
Es war unerträglich schwül. Schon am Morgen waren Wolken aufgezogen, die sich von Osten her über den Himmel schoben, um ihr
staubiges Grau für den Rest des Tages am Firmament zurückzulassen. Dann und wann rollte das Echo eines fernen Donnerschlages
über das Meer heran. Zwei-, dreimal hatte Andrej geglaubt, ein fernes Wetterleuchten wahrzunehmen, und tatsächlich war eine Stunde
zuvor ein kühler, böiger Wind aufgekommen, doch er hatte nicht
lange vorgehalten. Nachdem er wieder erloschen war, war es noch
heißer geworden. Es war eine schweißtreibende Hitze, die einem das
Atmen schwer und jede noch so kleine Bewegung zu einer überwältigenden Anstrengung werden ließ.
So oder so würde es bald zu einem Gewitter kommen, dachte Andrej düster, während er sich auf den warmen Stein der Brüstung lehnte
und den Blick seiner eng zusammengekniffenen Augen über die Hügel schweifen ließ. Wenn auch vielleicht zu einem von Menschenhand erschaffenen.
Die Truppen des Sultans hatten sie abermals überrascht. Selbst
Andrej war sicher gewesen, dass das Heer mindestens drei Tage
brauchen würde, um die Entfernung zwischen der Bucht von Marsascirocco und Birgu zu überwinden, doch die Invasoren hatten
kaum die halbe Zeit benötigt, was gewisse Rückschlüsse auf die
Ernsthaftigkeit des Widerstandes zuließ, den ihnen der Malteser Adel
mit seinen Truppen entgegengebracht hatte. In den frühen Morgenstunden hatten sie begonnen, ein Heerlager in den Ruinen eines Dorfes am östlichen Ende der Werftbucht einzurichten. Obwohl das Lager selbst ihren Blicken entzogen war, sprachen das ununterbrochene
Hämmern, die Hufschläge zahlloser Pferde und das Gemurmel einer
immer weiter anwachsenden Menschenmenge hinter den Hügeln eine
eigene, sehr beredte Sprache. Bisher war der schlimmste Anblick,
auf den Andrej vorbereitet war, ausgeblieben - noch hatten die Türken nicht damit angefangen, ihre Geschütze auf den Hügeln aufzustellen. Die schweren Großkanonen zu bewegen erforderte mehr
Zeit, und so mochte vielleicht noch ein Tag vergehen, bis die Truppen endgültig zum Angriff bereit sein würden. Eine kurze Gnadenfrist, die ihnen noch blieb.
Andrej riss seinen Blick von den sanft gewellten Hügeln, die sich
hinter der Stadt erhoben, los und ließ ihn über die weitläufigen Befestigungsanlagen der Schwesterstädte Birgu und Senglea streichen.
Was er dort sah, gefiel ihm fast noch weniger als das, was ihm die
Geräusche und seine eigene Fantasie über das Geschehen auf der
anderen Seite der Hügel verrieten. Die beiden Städte waren nicht
gerade klein, selbst jetzt noch, nachdem La Valette einen nicht geringen Teil davon hatte niederreißen lassen, um eine Landung von
See her zu erschweren, doch die Befestigungsanlagen waren einem
ernsthaften Ansturm nicht im Entferntesten gewachsen. Andrej selbst
war nicht dabei gewesen, aber er hatte die Ruinen von Rhodos gesehen, aus denen derselbe Sultan, der nun zum Angriff auf Malta ansetzte, die Johanniter zu Beginn seiner Regierungszeit vertrieben
hatte. Die Mauern dort waren höher und stärker gewesen, die Verteidiger ungleich zahlreicher und besser ausgerüstet, und doch hatten
sie dem Sturm, der über sie hereingebrochen war, nur wenige Tage
trotzen können. Wie konnte La Valette ernsthaft glauben, der gewaltigen Armee, die sich
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