Der gekreuzigte Teufel
Bescheid sägten, würde es nichts mehr nützen«, sagte Gatuiria. »Warum nicht?« fragte Wariinga.
»Weil ich mir nicht vorstellen kann, daß diese ganze Menschenmenge wieder umkehren würde!« erwiderte Gatuiria.
Und so standen sie am Straßenrand, schauten dem langen Zug zu und warteten auf Muturi. Und noch immer kamen singende Menschen, einige pfiffen, andere bliesen auf Blechpfeifen und Hörnern, aber alle stimmten in den Rhythmus des Liedes ein; Hände und Füße bewegten sich in rhythmischem Einklang mit dem Lied. Viele waren in Lumpen gekleidet, und noch viel mehr trugen keine Schuhe. Aber mittendrin sahen sie eine kleine Gruppe, die besser gekleidet zu sein schien, sie trugen saubere Hemden, Jacke und Hose.
Und plötzlich spürte Wariinga, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Sie wußte nicht, ob sie dem, was sie sah, Glauben schenken konnte oder nicht - sie fühlte sich in einen Traum ohne Anfang und ohne Ende zurückversetzt.
»Siehst du dort, dort!« sagte sie zu Gatuiria. »Siehst du ihn dort?«
»Wen? Was ist denn los?« fragte Gatuiria schnell. »Muturi?«
»Siehst du den Mann, von dem ich dir gestern abend erzählt habe? Siehst du dort den Mann, der mir gestern begegnet ist?« Wariinga sprach, als sänge sie ein Lied.
»Aber wen meinst du denn?«
»Den Mann, der mir an der Bushaltestelle Kaka die falsche Einladungskarte gegeben hat! Kannst du ihn denn nicht sehen, dort drüben?«
»Wo?«
»Dort drüben in der Gruppe, die ein bißchen besser angezogen zu sein scheint. Der, mit dem Spitzbart.«
»Moment mal«, sagte Gatuiria, »den kenne ich.«
»Wer ist er?« fragte Wariinga.
»Das ist ein Student von der Universität!«
»Student?«
»Ja, er ist der Anführer der Ilmorog University Students Association , der ILUSA.«
»Und was macht er hier in dem Zug?« fragte Wariinga.
»Vielleicht gehört er dazu«, erwiderte Gatuiria.
»Dann stimmt also doch, was Mwireri wa Mukiraai behauptethat, daß nämlich die falschen Karten, die von einem Fest des Teufels sprachen, von den Studenten stammten?« fragte Wariinga.
Und auf der Stelle öffnete sie ihre Handtasche und nahm die Karte heraus, die ihr der Student gegeben hatte, und jene, die sie von Mwireri wa Mukiraai erhalten hatte; schnell, als sähe sie sie zum ersten Mal, verglich sie die beiden Karten und steckte sie dann in die Tasche zurück.
»Auch ich habe keinen Zweifel mehr daran, wer mir die falsche Karte in mein Postfach in der Universität gesteckt hat«, sagte Gatuiria und nickte dabei, als seien ihm eben jetzt die Zusammenhänge klar geworden.
Immer noch schauten sie dem Zug zu, und noch mehr Fragen bedrängten sie.
Einige trugen Transparente und Plakate mit verschiedenen Slogans und Aufrufen: WIR SAGEN NEIN ZUM SYSTEM VON RAUB UND DIEBSTAHL; UNSERE ARMUT IST IHR REICHTUM; DER DIEB UND DER ZAUBERER SIND ZWILLINGE - IHRE MUTTER HEISST AUSBEUTUNG; DIE ARBEITER HABEN LÄNGST DEN BIENENKORB BEREIT, IN DEM DIEBE UND RÄUBER DIE HÄNGE DES TODES HINABGEROLLT WERDEN; WAS IST DER GRÖSSTE DIEBSTAHL? DIEBSTAHL AM SCHWEISS UND BLUT DER ARBEITER! WAS IST DER GRÖSSTE RAUB? RAUB AM BLUT DER MASSEN! und viele andere, die aber vom Straßenrand aus nicht so leicht zu entziffern waren. Wer kein Plakat trug, hatte einen Stock geschultert wie ein Gewehr.
»Das ist eine regelrechte Armee«, sagte Gatuiria.
»Eine Arbeiterarmee«, erwiderte Wariinga.
»Ja, zusammen mit den Bauern, den Kleinhändlern und den Studenten …«
»Angeführt von den Arbeitern …«
»… tragen sie den Kampf in die Höhle!« fügte Gatuiria hinzu.
Wariinga mußte lachen, als sie sich den Kampf in der Höhle zwischen den Arbeitern und den Dieben und Räuber vorstellte.
In der Zwischenzeit war die Spitze des Zuges längst an Wariinga und Gatuiria vorübergezogen. Wariinga fragte Gatuiria: »Vielleicht ist Muturi doch nicht dabei.«
2
Im selben Augenblick hatte Muturi sie gesehen, geradezu als Antwort auf Wariingas Frage. Er verließ den Zug und kam zu ihnen an den Straßenrand. Muturi sprach schnell und ohne Unterbrechung, als sei der Wortstrom über die Ufer getreten und habe die Dämme eingerissen.
»Geht ihr weg? So früh schon, wo doch der Kampf eben erst begonnen hat? Wollt ihr den großartigen Anblick verpassen, wenn wir die Klasse der Ausbeuter aus ihrem Lager in der Höhle vertreiben? Seht doch nur, seht, wie fest und stolz unsere Leute auftreten, als folgten sie dem Ruf der Massen! Die Arbeiter von Ilmorog hatten selbst schon alle Vorbereitungen
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