Der gekreuzigte Teufel
einzelner Mann, wie stark er auch sei, vermag nicht alleine eine Brücke über den Fluß zu schlagen; aber viele Hände vermögen ein noch so schweres Gewicht zu heben. Die Einigkeit des gemeinsam vergossenen Schweißes gibt uns die Kraft, uns zur Befriedigung unserer Bedürfnisse die Gesetze der Natur Untertan zu machen, anstatt auf immer als Sklaven den Naturgesetzen unterworfen zu sein. Darum sagte Gikuyu auch: Verändert euch, denn nicht alle Samenkörner in der Kalebasse sind von gleicher Art.
Diese Menschlichkeit, als Frucht der gemeinsamen Arbeit unserer Hände und unseres Denkens im Ringen mit der Natur, unterscheidet den Menschen vom Tier, von einem Baum und von allen anderen Geschöpfen der Natur.
Sagt mir eines: Gibt es irgendein anderes Geschöpf, das fähig wäre, den Wind, das Wasser, den Blitz und den Dampf einzufangen und zu zähmen — das ihre Arme und Beine in Ketten zu legen und sie einzukerkern vermag, das sie zu unterwürfigen und gehorsamen Sklaven seiner Bedürfnisse machen kann? Nein. Zwischen der menschlichen Natur und der Natur der Tiere besteht ein großer Unterschied. Die Tiere beugen sich der Natur und lassen sich von ihr auf diese oder jene Seite drängen, lassen sich hin und her wenden, genau so wie kleine Jungen es mitWürstchen machen, die sie im Feuer braten. Der Mensch jedoch ringt mit der Natur und hat bereits begonnen, sie zu beherrschen:
Schaut euch die Früchte der Arbeit vieler Hände an — Straßen und Schienen, Autos und Eisenbahnen und eine Vielfalt anderer Räder ermöglichen es dem Menschen, schneller zu laufen als der Hase oder als das schnellste Tier in den Wäldern; Flugzeuge verleihen den Menschen kraftvollere und schnellere Flügel, als irgendein Vogel am Himmel sie besitzt; Raketen, die schneller sind als Blitz und Schall; schwere Schiffe, die wunderbarerweise im tiefen Wasser schwimmen können, ohne zu sinken, wie es Petrus auf dem See Genezareth geschah; Telephon, Radio, Fernsehen — Dinge, die den Schatten und die Sprache eines Menschen einfangen können, damit dessen Gesicht und seine Stimme ›lebendig‹ bleiben, selbst nachdem der Körper tot, begraben und verwest ist. Kann es noch größere Wunder geben? Seht die Städte, die wir mit unseren Händen erbaut haben: Mombasa, Nairobi, Nakuru, Eldoret, Kitale, Kisumu, Ruuwa-ini und Ilmorog; seht die Kaffee- und Teepflanzen, das Zuckerrohr und die Baumwolle, den Reis und die Bohnen und den Mais, die wir aus einer Handvoll Samenkörner gezogen haben; seht das Feuer, das in Kupferdrähte eingefangen wird, die von den Flüssen Ruiru, Athi und Sagan bis in unsere Städte und Häuser führen, damit wir uns der Sonne, des Mondes und der Sterne erfreuen können, wenn in der Natur Sonne, Mond und Sterne schlafen gegangen sind! Hätte die Schmarotzersippe nicht die Früchte dieser Zusammenarbeit an sich gerissen, wo, glaubt ihr, stünden wir wohl heute? Meint ihr, wir würden wissen, was es heißt, ohne Kleidung zu sein und Kälte, Hunger und Durst zu verspüren?
Diese Menschlichkeit ist das wahre menschliche Herz, denn das Herz des Menschen ist die ständige Entfaltung seines Menschseins. Kannst du uns jetzt den Preis für ein solches Herz nennen, du Billigverkäufer und törichter Krämer?«
Die leidenschaftliche Auseinandersetzung und die vielen Gedanken in seinem Kopf ließen Muturis Atem schneller gehen. Schon oft hatte er über derlei Dinge nachgedacht, aber noch nie war es ihm gelungen, seine Gedanken in Worte zu fassen. Er war ein wenig über sich selbst überrascht, denn er konnte nicht sagen, aus welch unvermuteter Quelle diese philosophischen Gedanken entsprangen.
Mwaura erhob Einspruch. Er sagte zu Muturi: »Deiner Ansicht nach gibt es weder gute noch böse Herzen, denn sie sind ja Teil unseres Menschseins. Denn, du erinnerst dich, wir sprachen doch über Gut und Böse. Nun, deine Ansicht stimmt mit der meinen völlig überein. In dieser Welt gibt es weder Gut noch Böse. In dieser Welt gibt es weder gute noch böse Herzen. Ein Herz ist eben ein Herz. Das ganze Gerede von Himmel und Hölle gleicht Gruselgeschichten, mit denen man Kinder erschreckt. Worüber streiten wir uns eigentlich? Alles, was wir wollen, ist Frieden — und Geld!«
»Himmel und Hölle?« Muturi nahm die Diskussion wieder auf. »Beide existieren, und zwischen beiden besteht ein ebensolcher Unterschied wie zwischen Gut und Böse, wie zwischen einem guten Herzen und einem bösen Herzen. Hör zu! Unser Leben ist ein Schlachtfeld, auf
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