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Der gekreuzigte Teufel

Der gekreuzigte Teufel

Titel: Der gekreuzigte Teufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong'o
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verkündet den Sieg, und unzählige Oryxhörner und andere Hörner antworten ihm voll Freude. Und dann höre ich, wie die Stimmen aller Menschen und die Töne aller Instrumente zu einem einzigen vielstimmigen Klang verschmelzen, wie sie zu einer einzigen Stimme mit tausend Tönen werden, gleich einem Chor irdischer Engel, der stolz die Heldentaten des Volkes singt.
    Ich nehme Stift und Papier zur Hand, um die Botschaft der Stimmen festzuhalten, ehe sie der Wind wieder davonträgt. Aber, was soll ich euch jetzt sagen?
    Habt ihr jemals von Früchten geträumt, die in einem trockenen Monat, wenn die Sonne brennt und man sehr durstig ist, direkt vor den Augen hängen; hebst du jedoch die Hand und willst sie pflücken, um die brennende Zunge zu kühlen, dann entschweben die Früchte langsam und verschwinden am Himmel? Hier sindwir… hier sind wir … du hast uns nicht gewollt, also gehen wir … So scheinen sie dich zum Narren zu halten, nur um dein Verlangen und dein Begehren zu reizen! Genauso reizen die Stimmen mein Verlangen — mache ich mich jedoch daran, alles niederzuschreiben, dann sind — weh mir — Musik und Flötentöne entschwunden.
    Ich tröste mich damit, daß es nicht so wichtig sei — wem hat Jammern je schon genützt?
    Von Neuem beginne ich die Suche. Wieder stelle ich mir die Frage, die ich mir schon so oft gestellt habe: Was kann ich tun, um für unser Land eine Musik zu schaffen, die in ihrem Wesen der kenianischen Nation entspricht? Eine Musik, die von einem Orchester gespielt wird, in dem alle Instrumente aller Volksgruppen Kenias vertreten sind — wie kann ich die eine Stimme schaffen, mit der wir, die Kinder Kenias, singen, die Stimme, die vielen Stimmen entspringt? Harmony in Polyphony ?
    Ich habe manche schlaflose Nacht verbracht. Ein Komponist, dem es nicht gelingt, Melodie, Thema und Rhythmus einzufangen, gleicht einem leeren Gehäuse.
    Nachdem ich aus dem Ausland zurückgekehrt war, fühlte ich mich wohl ein Jahr lang wie ein Bauer, der mit einem stumpfen Grabholz versucht, einen Eukalyptusbaum auszugraben … Ich konnte und konnte nicht an die Wurzel dessen gelangen, was ich suchte …«
    Gatuiria brach die Erzählung von seinem endlosen Suchen ab. Keiner sagte ein Wort.
    Wariinga war unruhig, aber sie wußte nicht, warum — waren es Gatuirias Worte oder die Art, wie er erzählte, oder einfach seine Stimme? Er sprach wie ein Mann, der sich tagelang mit der schweren Last bitteren Leids abgequält und schlaflose Nächte über Fragen verbracht hatte, auf die er keine Antwort fand. Warum hatte er seine Geschichte gerade jetzt, an dieser Stelle, unterbrochen? Er hatte sie um Hilfe bei der Lösung seiner Probleme gebeten — was für Probleme waren das? Viele Fragen gingen Wariinga durch den Kopf.
    Gatuiria wandte sich Wariinga zu, als könne er ihre Gedanken lesen. Aber ehe er seine Erzählung wieder aufnahm, begann der Mann mit der Sonnenbrille zu sprechen, und zwar in Englisch:
    »So you are on the staff of the University — Sie haben also einen Lehrauftrag an der Universität?«
    Seine Stimme erschreckte die anderen Fahrgäste. Es waren die allerersten Worte, die der Mann sprach, seit er an der Bushaltestelle Sigona eingestiegen war. Während der ganzen Reise hatte er sich still in seine Ecke gedrückt, als fürchtete er, in Mwauras Matatu umgebracht zu werden.
    »Yes, yes, Research Staff — ja, auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forschung«, erwiderte Gatuiria in Englisch.
    »Dann kennen Sie Professor Ngarikuuma und Professor Gatwe Gaitumbi?«
    »Ja, Professor Ngarikuuma lehrt Politische Wissenschaften und Professor Gatwe Gaitumbi lehrt Volkswirtschaft.«
    »Und Professor Kimenyiugeni?«
    »Er lehrt Geschichte. Aber er kennt nur die europäische Geschichte.«
    »Und Professor Bari-Kwiri?«
    »Er unterrichtet in der Abteilung für englische Sprache und englische Literatur! Aber manchmal hält er auch Vorlesungen über Philosophie und Religion.«
    »So ist das also«, sagte der Mann mit der Sonnenbrille, und seine Stimme verriet, daß er sich etwas beruhigt hatte. Sie warteten darauf, daß er noch weitere Fragen stellen oder sonst noch etwas hinzufügen würde, aber er sprach nicht mehr. Es schien jedoch, als habe seine Angst nachgelassen, und er lehnte sich sogar entspannt in seinen Sitz zurück. Gatuiria nahm seine Erzählung wieder auf:
    »Es kam der Tag, an dem ich meinte, endlich das Licht sehen zu können. Ein alter Mann aus dem Dorf Bahati in Nakuru …«
    »Hast du Bahati

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