Der gekreuzigte Teufel
gesagt?« rief Mwaura. »Bahati, Bahati in Nakuru?«
»Ja!« erwiderte Gatuiria. »Warum?«
»Ach nichts, es ist egal — erzähl nur weiter«, sagte Mwaura und seine Stimme ließ eine gewisse Besorgnis erkennen.
»Anyway , der alte Mann aus dem Dorf Bahati in Nakuru, er zeigte mir den Weg. Ich war zu ihm gegangen und hatte zu ihm gesagt: Vater, erzähle mir alte Geschichten von menschenfressenden Ungeheuern oder von Tieren.‹ Er hat nichts darauf erwidert. Er hat mich nur angeschaut und ein wenig gelacht. Dann hat er gesagt: ›Es gibt keinen Unterschied zwischen alten und neuen Geschichten. Geschichten sind Geschichten. Alle Geschichten sind alt, und alle sind modern. Alle Geschichten gehören demmorgigen Tag. Geschichten über menschenfressende Ungeheuer, über Tiere und über Menschen gibt es nicht. Alle Geschichten handeln vom Wesen und Sein des Menschen. Junger Mann! Es ist mir unbegreiflich, was ihr heutzutage alles lernt, oder was du dir in all diesen vielen Jahren an Wissen aus Übersee geholt hast. Wie viele Jahre waren es? Fünfzehn Jahre! Haben sie dich je gelehrt, daß die Literatur der Schatz eines Volkes ist? Die Literatur ist Honigseim aus der Seele einer Nation für ihre Kinder. Sie sollen stets davon kosten können! Gikuyu hat einmal gesagt: Wer heute spart, braucht morgen nicht zu hungern. Glaubst du denn, Gikuyu war ein Narr, als er solches sagte? Ein Volk, das seine Literatur weggeworfen hat, hat auch seine Seele verkauft; was übrig bleibt, ist ein leeres Gehäuse. Aber es ist gut, daß du gekommen bist. Sage ja, und ich werde dir die Geschichten erzählen, die ich kenne.‹
Es war an einem Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Die züngelnde Flamme in der zylinderlosen Blechlampe flackerte wie eine rote Fahne im Wind; auf den Wänden des viereckigen Raumes, den der Mann bewohnte, ließ sie unsere Gestalten als spielende Schatten erscheinen.
Der alte Mann erzählte mir zuerst die Geschichte von einem Bauern, der auf seinem Rücken ein menschenfressendes Ungeheuer mit sich herumtrug. Das Ungeheuer hatte seine langen Nägel in den Hals und die Schultern des Bauern gekrallt. Der Bauer war es, der auf die Felder hinausging, um Nahrung zu holen, der in die Täler hinabstieg, um Wasser zu schöpfen, der in den Wald ging, um Feuerholz zu sammeln, und der das Essen kochte. Das Ungeheuer jedoch tat nichts anderes, als zu essen und hernach tief und fest auf dem Rücken des Bauern zu schlafen. In dem Maße, wie der Bauer dünner und sein Herz immer schwerer wurde, in dem Maße machte sich das Ungeheuer immer breiter, wurde fett und überschwenglich, bis es dem Bauern sogar geistliche Lieder vorsang, in denen der Mann aufgefordert wurde, sein Schicksal hier auf Erden geduldig zu ertragen, denn seine Ruhe würde er später im Himmel finden. Eines Tages suchte der Bauer einen Seher auf. Dieser sagte ihm, daß nur ein Mittel ihm helfen könne, nämlich kochendes Öl, das er dem schlafenden Ungeheuer über die Krallen gießen müsse. Der Bauer erwiderte darauf: ›Und was ist, wenn ich mir Hals und Schultern dabei verbrenne?‹ Der Seher antwortete ihm: ›Einen Tod mußt duleiden. Geh jetzt nach Hause!‹ Erst als der Bauer tat, was ihn der Seher geheißen hatte, ward er vor dem sicheren Tod gerettet.
Die zweite Geschichte handelte von einem Mädchen, der personifizierten schwarzen Schönheit mit einer wunderschönen Zahnlücke. Sie wurde Nyanjiru Kanyarari gerufen, und das aus drei Gründen: sie war schwarz, sie war wahrhaft schön, und sie hatte jeden jungen Mann im ganzen Land zurückgewiesen. Als nun Nyanjiru eines Tages einen jungen Mann aus einem fremden Land sah, sagte sie sofort, daß er es sei, auf den sie so lange gewartet habe. Sie ging mit ihm. Wißt ihr, daß der junge Mann ein menschenfressendes Ungeheuer war? Er hackte Nyanjiru alle Glieder ab und fraß sie auf, eins nach dem andern.
Die dritte Geschichte hat einen unauslöschlichen Eindruck in meinem Herzen hinterlassen. Wie kann ich sie euch erzählen? Ich wünschte, ich könnte sie nur annähernd so erzählen, wie er es getan hat! Wie er seine Stimme hob und senkte — aber nein —, ich will es erst gar nicht versuchen. Die Bildung, die uns die Weißen gebracht haben, hat die Flügel unserer Fähigkeiten beschnitten: nun hüpfen wir umher wie Vögel mit gebrochenen Flügeln. Ich werde euch kurz die Geschichte weitergeben, die mir der alte Mann aus Bahati in Nakuru erzählt hat, damit ihr sehen könnt, wo die Schwierigkeiten
Weitere Kostenlose Bücher