Der Geliebte
Respekt sie Louis entgegenbringen? Der sieht nicht gerade gut aus, und er wohnt auf Peters Grundstück in einem alten Wohnwagen, in den es hineinregnet. Aber er gehört genauso dazu wie alle anderen. Wenn du jetzt an unser altes soziales Umfeld zurückdenkst - wo gab es da so was? Da zählten nur der Job, das Haus und das Auto. Hätten wir einen Wagen wie den von Pierre-Antoine bei uns in der Auffahrt stehen gehabt, hätten die Leute sich darüber das Maul zerrissen, und die Gemeinde hätte ihn abschleppen lassen. Aber der Wert eines Menschen hängt nicht nur von seinem Besitz und seinem Job ab. Immer nur darauf abzuheben ist so heuchlerisch, dass es zum Himmel stinkt. Hier sind die Menschen ehrlicher, mehr sie selbst. Jeder ist hier einzigartig, ob er nun Geld hat oder nicht. Sie machen Fehler, genau wie alle anderen, aber sie versuchen, daraus zu lernen. Dafür werde ich Peter bestimmt nicht schief angucken. Und du ja wohl auch nicht, hoffe ich.«
41
Es war so kalt, dass ich am Morgen an der Windschutzscheibe Eis kratzen und während des Kochens immer wieder die Hände ins warme Spülwasser tauchen musste. Die Jungs hatten sich in mehrere Schichten Oberbekleidung und dicke Jacken gehüllt. Es wurde wenig gelacht und kaum noch gescherzt. Grimmig sahen sie aus, mit ihren vor Kälte verzerrten Gesichtern. Man hätte meinen können, wir hätten eine Bande von Bankräubern in Diensten.
Vielleicht war es ja auch so.
Beim Essen behielten alle die Jacken an. Eric hatte einen elektrischen Ofen neben den Tisch gestellt, aber das half wenig.
Ich hatte an jeden Platz ein kleines Schälchen mit Salat gestellt. Tomatenstücke und Gurkenscheiben, getrocknete Pflaumen und Meersalz, dazu ein Olivenöl-Dressing mit Zitrone und Petersilie aus der Tiefkühltruhe. Schon am Tag zuvor war ich dazu übergegangen, nicht mehr eine große Schüssel auf den Tisch zu bringen, aus der sich alle nach Belieben bedienten, sondern einzelne Portionen.
Peter hatte seine komplett aufgegessen. Ich hatte dagesessen und ihn angestarrt, und für den Bruchteil einer Sekunde hatte er mit leerem Blick zurückgeschaut. Ganz kurz befürchtete ich, dass ich mich bereits verraten hatte. Dass er Gedanken lesen konnte.
Es war nichts Außergewöhnliches an dem Salat.
Noch nicht.
Während die anderen sich wieder an die Arbeit machten, hatte ich Peter bezahlt. Er war danach noch kurz in der Küche stehen geblieben, als wollte er mit mir reden. Meine veränderte Haltung war ihm anscheinend doch aufgefallen. Ich hatte mich abgewandt und mit dem Abwasch angefangen, woraufhin er im rechten Flügel des Hauses verschwunden war, um den Jungs zu helfen.
Peter sollte sich ruhig einbilden, dass er alles unter Kontrolle hatte. Solange er nur brav meine Salate aß, konnte jeder Montagmittag sein letzter sein. So bekam ich das Gefühl, dass nicht er die Fäden in der Hand hielt, sondern ich. Das machte mich stark.
Vor allem aber machte es mir Angst.
Ich wusste nicht, ob ich tatsächlich die Kraft dazu hätte, den Mut. Ob ich verzweifelt genug wäre, ungerührt zuzusehen, wie Peter eine Portion Salat aß, die ihn umbringen würde. Und ob ich hinterher, wenn sie im Labor seinen Mageninhalt analysiert hätten und darauf verfielen, seine von Simone Jansen kredenzte letzte Mahlzeit in Frage zu stellen, tatsächlich in der Lage wäre, die Unschuldige zu spielen.
Darüber dachte ich immer öfter nach. Fast täglich sah ich mir auf dem Discovery-Channel FBI-files und ähnliche Dokumentationen an. Ich sog die Fakten auf wie Unterrichtsstoff, die Ermittlungen, die Autopsien, die Verhöre. Und je mehr ich mich damit beschäftigte, desto mehr Angst bekam ich. Und Zweifel, ob ich mir nicht selbst etwas vormachte. Ob das, was mir durch den Kopf ging und meinen Alltag immer stärker beherrschte, überhaupt noch etwas mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Wahrscheinlich konnte ich nicht mehr klar denken, aber ich wusste auch nicht, wie ich den Bezug zur Realität wiedergewinnen sollte. In letzter Zeit lebte ich fast nur noch in meinen eigenen Gedanken. Niemand hielt mir einen Spiegel vor, niemand schlug mir auf die Finger oder fing mit mir zu diskutieren an. Die Welt, in der ich lebte, war schrecklich still und einsam.
Und erfüllt von Angst.
Ich drehte mich darin im Kreis und sah keinen Ausweg mehr.
Mehr als einmal war ich kurz davor, Eric alles zu beichten. Was mich jedoch zurückhielt, war die Gewissheit, dass es ihn gebrochen hätte. Er hatte blindes Vertrauen zu mir, zu
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