Der Geliebte
Kennzeichen bekommen, desto schneller sind wir die Kfz-Steuer los. Ich kann da morgen auch schnell anrufen.«
Eric kam von der Leiter herunter. Er nahm mich in den Arm und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Ich bin dann kurz weg, Schatz. Mach doch schon mal einen Wein auf. Und nimm ein Stück Camembert aus dem Kühlschrank, darauf hätte ich auch noch Lust. In anderthalb Stunden bin ich wieder da.«
»In Ordnung«, sagte ich mechanisch.
Während ich den Volvo wegfahren hörte, ging ich in die Küche, um eine Flasche Wein und den Camembert zu holen. Ich hatte schon die Hand nach dem Käse ausgestreckt, hielt dann aber inne. Ich hatte keine Lust, anderthalb Stunden lang draußen zu sitzen und auf Eric zu warten. Hinzu kam, dass er sein Versprechen nachher wahrscheinlich doch wieder vergessen hätte. Er würde auf der Stelle vom Schlaf übermannt werden.
Ich machte den Kühlschrank zu, löschte das Licht in der Küche und ging zum Wohnwagen zurück. Vielleicht sollte ich lieber schon ins Bett gehen.
10
Anscheinend treten in wilden Kaninchenkolonien in freier Wildbahn Phasen auf, in denen die Hodensäcke der angestammten Männchen verschrumpeln. Und manchmal kommt dann zufällig ein fremdes Kaninchen männlichen Geschlechts vorbei. Ein Männchen in der Blüte seiner Jugend, das noch keinen festen Platz hat. Und weil die Männchen aus der Kolonie sich selbst nicht mehr um die Fortpflanzung kümmern, bemerken sie den Neuankömmling nicht einmal. Auf diese Weise kann ein fremdes Männchen genau im richtigen Augenblick unbemerkt in die Kolonie eindringen.
Und sich fortpflanzen.
Es war noch früh am Morgen. Ich hatte die Kinder in die Schule gebracht, auf dem Rückweg zum Auto Höflichkeiten mit dem Bürgermeister und ein paar Leuten aus dem Rathaus ausgetauscht, und war danach noch beim Bäcker gewesen, um meine täglichen vier Baguettes abzuholen. Zu Hause hatte ich die schmutzige Wäsche von Isabelle und Bastian im Wohnwagen zusammengesammelt, die kleinen Steinchen aus Hosen von Eric herausgeschlagen und alles in die Waschmaschine gesteckt. Das war’s. Mein neues, spannendes, aufregendes Leben tief im Süden Frankreichs.
Ansonsten gab es bis elf Uhr wenig zu tun. Bei vierundzwanzig Grad im Oktober, einer strahlenden Sonne und wunderbaren weißen Quellwolken am Himmel wollte ich eigentlich am liebsten irgendwo im Gras liegen, ein Buch lesen und mich ausruhen, neue Energie tanken.
Die Truppe war bei der Arbeit. Ein Radio plärrte, und die Jungs sangen aus voller Brust bei einem Rap mit, doch die Stimmen wurden von ohrenbetäubendem Gehämmer und kreischenden Sägen übertönt.
Ich nahm im Wohnwagen ein Buch aus dem Regal und schlenderte damit den Hügel hinab. In dem hohen Gras zeichnete sich allmählich ein Pfad ab, mein täglicher Weg zu unserem kleinen See.
Dieser lag hinter der Ruine, die wahrscheinlich schon über zweihundert Jahre am Saum des Waldes stand. Es war ein kleines Haus gewesen, schmal und hoch, mit zwei Stockwerken. Das war noch zu erkennen, wenn man genau hinsah. Übrig geblieben waren nur die Grundmauern, die ebenfalls bereits zu beiden Seiten abbröckelten. Die Fenster und Türen waren verschwunden, genau wie das Dach. Hatten sich mit der Zeit in nichts aufgelöst: verfault, oder eher von der Natur resorbiert, von unzähligen Holz fressenden Insekten zersetzt. Das »Hexenhaus«, so hieß die Ruine für Isabelle und Bastian, und ich musste zugeben, dass Hexen, Feen und Elfen, wenn es sie denn gäbe, vermutlich tatsächlich gern darin gewohnt hätten.
Ein Stückchen weiter kam ich an den Resten eines pigeonnier vorbei, eines Taubenschlags. Ursprünglich war es ein runder Turm mit Spitzdach und Einfluglöchern gewesen, aber jetzt war bloß noch ein Kreis großer Steine übrig, dessen Rand mir bis knapp über Hüfthöhe reichte und von Kletterpflanzen überwuchert war: Efeu sowie allerlei hellgrüne Stängel mit violetten, kelchförmigen Blüten.
Das Wasser war glasklar. Kleine Insekten hingen dicht zusammengedrängt über der stillen Oberfläche wie graue, diffuse kleine Wolken, die ständig ihre Form änderten. Eine Hummel summte vorbei. Die Grillen zirpten unablässig.
Ich atmete tief durch. Die Luft war an diesem Morgen schwer und süß, erfüllt von zahllosen herrlichen Gerüchen, als wäre es noch Sommer oder gar Frühling und nicht bereits der Herbst angebrochen.
Der Lärm der Bauarbeiten war auch hier unten noch zu hören, aber nur ganz schwach. Das wirkte
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