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Der Geliebte

Titel: Der Geliebte Kostenlos Bücher Online Lesen
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sogar beruhigend.
    Unwillkürlich musste ich an das gestrige Gespräch mit Eric denken. Ich fragte mich, wie das alles gekommen war, warum er so von dem Haus in Beschlag genommen wurde und nicht begreifen konnte oder wollte, dass ich gerade jetzt, in dieser verwirrenden, neuen Situation, jemanden brauchte, der mich unterstützte. Ich war es, die sich um Isabelle und Bastian kümmerte, die im Dorf soziale Kontakte knüpfte, die für die Mannschaft kochte. Ich hatte die Buchhaltung übernommen. Ich las die in kompliziertem Französisch geschriebenen und völlig unverständlichen Briefe, die wir bekamen, und beantwortete sie mit Hilfe eines Wörterbuchs. Das Kindergeld, die Krankenversicherung, Telefonrechnung, Strom, Bankangelegenheiten, Mobilfunkverträge. Jeden Tag kam aufs Neue ein ganzer Berg von Erledigungen auf mich zu, ohne dass mir irgendjemand über die Schulter gesehen hätte, um mich auf Fehler hinzuweisen, oder gar darauf zu achten, dass ich gar nicht erst welche machte.
    Und ich hatte keine Sekunde Ruhe. Weder morgens um sieben, wenn ich aufstand, um die Kinder fertig zu machen, noch danach, wenn ich sie in die sechs Kilometer entfernte Schule brachte, wo ich Dutzende von Menschen traf, die schon jahrelang miteinander vertraut waren, während ich mich immer fragte, wem ich noch alles die Hand schütteln musste, um nicht rüde oder mürrisch zu wirken. Um die Mittagszeit herum herrschte erst recht keine Ruhe, sondern Megastress war angesagt, denn dann wurde von mir erwartet, dass ich eine vollständige, nahrhafte und mit Liebe zubereitete Mahlzeit für die ganze Mannschaft auf den Tisch brachte und zwei Stunden lang an Gesprächen teilnahm, die in so schnellem und anscheinend mit Dialekt durchsetztem Französisch geführt wurden, dass ich immer nur die grobe Richtung der Unterhaltung mitbekam. Nachmittags musste ich aufräumen und abwaschen, die Buchhaltung erledigen, Telefonate führen sowie manchmal für Eric und Peter Kleinigkeiten im Baumarkt besorgen. Dann kündigte sich schon die nächste Pflicht an, nämlich die Kinder abzuholen und zu beschäftigen, also Bastian bei den Hausaufgaben zu helfen und den beiden neue Vokabeln beizubringen oder mit ihnen spazieren zu gehen, damit sie sich vom Haus fernhielten. Wenn die Truppe gegen acht abzog, fing ich mit der Vorbereitung des Abendessens an, das wir zusammen an dem großen Tisch im Freien zu uns nahmen. Dann wusch ich die Kinder, brachte sie ins Bett und legte ihre Anziehsachen für den nächsten Tag bereit. Am Ende eines solchen Tages war ich todmüde. Etwa eine Stunde konnte ich die Augen noch offen halten, bis ich, dem Mangel an Komfort in unserem Wohnwagen zum Trotz, sofort in tiefen Schlaf fiel.
    All dies, ohne mit Eric auch nur ein einziges Wort von Bedeutung zu wechseln. Kaum tat ich morgens die Augen auf, stand mir ein überfüllter Terminkalender vor Augen. Nirgends war Land in Sicht.
    Außer hier und jetzt. Diese eine Stunde am Morgen, und manchmal noch eine zusätzliche halbe am Abend, hatte ich bitter nötig, um zu mir selbst zurückzufinden. Ich eignete mir diese Momente an, es war gestohlene Zeit. Und ich fühlte mich nicht einmal schuldig, weil ich wusste, dass ich ohne diese Ruhepausen keine zwei Wochen durchhalten, sondern zusammenbrechen würde.
     
    Es klappte nicht mit dem Lesen. Ich legte das Buch zur Seite und drehte mich auf den Rücken. Ich atmete tief durch, breitete die Arme aus. Sog den süßen Duft von Kräutern und Blumen ein, der mich umgab. Sah den Flugzeugen nach, die hoch über mir am Himmel weiße Streifen hinter sich herzogen; den Raubvögeln, die eine Ebene tiefer lautlos kreisten; den Wolken, die allerlei Formen annahmen, in denen ich immer wieder andere Figuren erkannte.
    Es heißt bisweilen, dass man sich schnell an Dinge gewöhnt, dass man bestimmte schöne oder weniger schöne Dinge in der eigenen Umgebung irgendwann nicht mehr wahrnimmt.
    Das traf bei mir nicht zu.
    Tag für Tag staunte ich aufs Neue darüber, dass ich nun hier wohnte, tausend Kilometer von »zu Hause« entfernt, und dass die überwältigende, schwindelerregend schöne Natur, die mich hier umgab, unser Garten war. Vielleicht würde ich mich irgendwann doch noch daran gewöhnen. Aber an dem Punkt war ich noch lange nicht angelangt.
    Ich fing an, die Arme zu bewegen wie Schmetterlingsflügel, genau wie früher am Strand, als ich noch klein war und mir solche Spielereien noch zustanden. Ich lächelte unentwegt vor mich hin, glückselig, während ich

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