Der Geliebte
vorher, aber ich war mir darüber nicht im Klaren. Das bin ich erst jetzt, wo ich auch im ganz wörtlichen Sinne gefangen bin. Erst jetzt sehe ich die Gitterstäbe meines Käfigs, die Mauern um meine Ehe, die Eingeschränktheit meines Handlungsspielraums. An alldem ist weder meine Mutter schuld noch Eric.
Sondern ich selbst.
Ich habe es nicht nur geschehen lassen, ich war aktiv daran beteiligt. Die Mauern, die mich umgeben, sind aus Steinen errichtet, die ich den Maurern selbst gereicht habe.
Aber das waren keine echten Mauern wie hier.
Es gab sie nur in meinem Kopf.
19
Genau wie das unsere lag das Haus von Peter und Claudia ein ganzes Stück von der Straße entfernt. Die lange Zufahrt schlängelte sich durch einen Kastanienwald eine Anhöhe hinauf und endete in einem großen kreisförmigen Vorplatz mit einem Springbrunnen in der Mitte. Peters Haus erinnerte eher an ein kleines Schloss denn an ein Landhaus. Zwei dunkle Türme hoben sich von einem tiefblauen Himmel ab, in dem noch ein paar längliche orangefarbene Schlieren des Sonnenuntergangs hingen. Aus den Sprossenfenstern fiel weiches, warmes Licht auf die Zufahrt. Die meisten vor dem Haus geparkten Autos hatten französische Kennzeichen.
Bastian und Isabelle waren total aufgedreht. Beim Aussteigen aus dem Auto purzelten sie beinahe übereinander. Ich hatte sie in ihre besten Sachen gesteckt: Isabelle trug ein rosa Baumwollkleid und eine weiße Schleife im blonden Haar, Bastian eine Dreiviertelhose und ein weißes Hemd, sein Haar hatte ich mit Gel gescheitelt. Aus dem Haus drangen gedämpfte Musik - »Give me the night« von George Benson - und Stimmen zu uns.
»So wird es bei uns auch«, sagte Eric, der in seinem dunkelblauen Anzug neben mir ging und das Haus wohlwollend in Augenschein nahm. »Wart’s mal ab. Wir werden leben wie Gott in Frankreich! Jawohl!«
»Sind da wirklich niederländische Kinder?«, fragte Isabelle. Über den beigefarbenen Schotterpfad, der zum Haus führte, hüpfte sie auf die große Flügeltür zu.
»Ja«, sagte ich und griff nach ihrer Hand, »das hat Peter gesagt. Und es gibt ein Zimmer mit Fernseher und Süßigkeiten, extra für euch.«
Drinnen hielt ich als Erstes nach Michel Ausschau. Die letzte Woche war grau gewesen, trübsinnig, unruhig und leer. Ich hoffte, dass er hier wäre und wir dann kurz miteinander reden könnten, ich ihn kurz berühren könnte. Oder wenigstens einen raschen Blick des Einverständnisses tauschen, sodass ich beruhigt wäre.
Lauter fremde Leute in warmem, gelbem Licht, festliche Kleidung, glitzernder Schmuck, alte und junge Menschen, blonde und dunkelhaarige, die miteinander flüsterten oder laut lachten, aber nirgends entdeckte ich Michels markantes Gesicht.
»Claudia, da sind Simone und Eric!«
Breit grinsend kam Peter auf uns zu. Der Kragen seines blauweiß gestreiften Hemds stand offen. Eine Frau mit kurzen, roten Haaren, die kräftig gebaut war und eine energische Ausstrahlung hatte, hielt mir die Hand hin. Sie trug ein weißes Kostüm mit schwarzen Nadelstreifen, das aussah wie aus einer Chanel-Kollektion.
Als ich mich ihr vorstellte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass Peter mit seinen groben Händen kumpelhaft durch Bastians Haar wühlte und den kunstvoll modellierten Scheitel durcheinanderbrachte.
»Ich helfe dir erstmal mit den Kindern«, sagte Claudia. Sie hielt Isabelle eine Hand hin, die meine Tochter schüchtern ergriff. »Komm.«
Ich folgte Claudia durchs Haus. Es war wunderschön, sehr authentisch mit grob verputzten Natursteinwänden, dunklem Holz und prächtigen alten Steinbögen. Ich fing französische, niederländische, flämische, englische und deutsche Gesprächsfetzen auf. Die Musik der Liveband schallte durchs ganze Haus. Lokalisiert hatte ich die Musiker noch nicht, aber es waren eindeutig Experten für 70er-Jahre-Discomusik. Der Sänger hatte eine warme, ruhige Stimme. Das Feeling stimmte.
Von Michel weit und breit keine Spur.
»Da sind wir«, sagte Claudia. Sie öffnete eine schwere Tür aus Eichenholz. »Dies ist unser Fernsehzimmer. Peter verbringt eine Menge Zeit hier. Er ist ganz verrückt nach Filmen.«
Es war ein luxuriöser Raum mit Eichendielen und zwei großen schwarzen Ledersofas. An den Wänden hingen Ölgemälde, auf denen Pferde in einer Landschaft abgebildet waren. Ich zählte insgesamt fünf Kinder im Alter von etwa vier bis zehn Jahren. Auf der Mattscheibe erkannte ich das Nickelodeon-Logo. Die Kinder hingen in den Sofas oder lagen vor
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