Der Geliebte
Wahrscheinlichkeit war denkbar gering -, zumindest nicht sehen.
Ich bückte mich, zog den Kaffeefilter aus meiner Socke und ließ den fahlen Schein des aufleuchtenden Displays darauf fallen.
Mit rasendem Herzen probierte ich die erste Nummer. Am anderen Ende meldete sich ein aufgeregter Franzose, der nicht Michel hieß und auch keinen Michel kannte. Beim zweiten Versuch erreichte ich eine Automatenstimme, die unbeteiligt mitteilte, die gewählte Nummer sei zurzeit nicht erreichbar, ich solle es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal probieren. Die dritte in krakeliger Schrift auf dem Filter notierte Zahlenfolge brachte mich in Kontakt mit einem jungen Mädchen, oder zumindest klang ihre Stimme jung. Ich konnte nichts dagegen tun, dass ich sofort einen Stich von Eifersucht verspürte, dass mir gleich alles Mögliche vor Augen stand. In herrischem Tonfall brachte ich etwas heraus wie »Kann ich bitte mit Michel sprechen?«
Das Mädchen war anscheinend aufrichtig verwirrt, sie kannte überhaupt keinen Michel.
Blieb also die zweite Nummer, die zurzeit nicht erreichbare. Ob es tatsächlich seine war? Dass er gerade keinen Empfang hatte, war durchaus möglich. Das war mir hier selbst schon oft passiert. Die alten Häuser, unseres inbegriffen, hatten extrem dicke Wände von bis zu einem Meter Tiefe. Sie bestanden aus Natursteinen, die die Bauern vor Hunderten von Jahren, lange vor der Industriellen Revolution, einzeln zusammengesammelt und in Lehm gepresst hatten. Für moderne Kommunikationsmittel waren solche Wände nicht ausgelegt. Es drang einfach kaum ein Signal durch sie hindurch.
Ich versuchte es noch einmal - wieder nichts. Dann speicherte ich die Nummer unter dem Namen »Michelle« im Adressbuch. Um wirklich hundertprozentig sicherzugehen und keine Spuren zu hinterlassen, löschte ich auch die Liste der gewählten Rufnummern. Rückverfolgung ausgeschlossen. Später musste ich auf jeden Fall die Orange-Rechnung mit dem Einzelverbindungsnachweis abfangen.
Mit einem Pfiff rief ich Bleu. Im nächsten Augenblick kamen zwischen den Sträuchern seine wolfsartigen Konturen zum Vorschein. Zusammen gingen wir zurück.
Drinnen hörte ich das Telefon klingeln. Es war bestimmt schon halb elf.
Ich ging hinein und schloss die Tür hinter mir. In der Küche blieb ich stehen und zögerte. Dann nahm ich den Hörer ab.
Im selben Moment wurde am anderen Ende die Verbindung unterbrochen.
30
Es war Samstagnachmittag, fünf Uhr, und ich war krank. Jedenfalls hatte ich das vorgeschützt. Niemand hatte daran gezweifelt.
Gestern Abend war ich tatsächlich krank gewesen. Als Erics Eltern unsere Zufahrt entlangfuhren, hatte ich mit Sodbrennen im Bett gelegen und geglaubt, ich könnte jeden Augenblick sterben. Schwindel, Fieber, Benommenheit. Eric wollte einen Arzt rufen, aber ich hatte ihm versichert, es sei nichts Ernstes. Ich brauchte keinen Arzt, der mir sagte, was ich auch selbst wusste: dass mir einfach alles zu viel geworden war. Die Umstellung auf ein anderes Land, eine andere Sprache und Kultur, die vielen neuen Eindrücke, der Mangel an sozialen Bezugspunkten, die Kälte, meine Sorgen um die Kinder und der an allen Ecken und Enden fehlende Komfort, aber - wenn ich ehrlich war - vor allem die Anspannung. Unablässig musste ich stark sein, um der Kinder willen, aber auch um Erics willen, während ich innerlich laut weinte und schrie. Hinzu kam, dass ich in den letzten Wochen nicht viel gegessen hatte, und gestern Abend hatte mir mein Körper schließlich unmissverständlich signalisiert: bis hierher und nicht weiter.
Aber irgendwie musste es weitergehen.
Heute Morgen hatte ich mich schon etwas besser gefühlt, aber beschlossen, weiter krank zu spielen.
Mit gespitzten Ohren lag ich im Bett und lauschte darauf, dass Eric draußen den Wagen anließ. Er fuhr mit seinen Eltern und den Kindern in die Stadt. Sie würden einkaufen und später auswärts essen gehen. Vor neun Uhr abends wären sie nicht zurück.
Ich sprang aus dem Bett, rannte zum Fenster und schaute nach draußen. Das Auto meiner Schwiegereltern fuhr gerade unsere Zufahrt hinauf, zur oberhalb von unserem Grundstück gelegenen Straße. Ich dankte dem Himmel.
Innerhalb von fünf Minuten hatte ich mich angezogen, die Autoschlüssel von der Spüle genommen und war zum Volvo hinuntergelaufen.
Peters Wagen stand am Ende seiner Zufahrt. Daneben war ein weißer Lieferwagen geparkt. Hatte Claudia ein eigenes Auto? Das wusste ich nicht. Ich konnte nur
Weitere Kostenlose Bücher