Der gemietete Mann: Roman (German Edition)
wenn da draußen nichts zu sehen war. Das war heute schon das zweite Mal, dass er in einem endlosen dunklen Tunnel war. Ich schaute ihn sorgenvoll an. Was konnte ich tun? Drängen, dass er mir etwas erzählte? Nein. Ich hatte das Gefühl, dass Schweigen Gold war.
Wir ratterten durch die Dunkelheit. Zwischendurch hielt die Bahn zweimal an, und die Welle der Touristen ergoss sich auf einen eiskalten, dunklen Bahnsteig, von dem aus man durch mehrere dicke Fenstergläser auf das ewige Eis dort draußen schauen konnte.
»Bleib sitzen, Emil«, sagte ich. »Verdirb dir nicht die Überraschung.«
Da die Mädchen auf unserem Schoß schliefen, fiel uns das Sitzenbleiben auch nicht weiter schwer. Die müde geschaukelten Touristen schossen ihre Fotos bei der Eigerwand und dem Eismeer und kletterten fünf Minuten später verfroren wieder in unsere Zahnradbahn zurück.
Wir ratterten weiter. Eine Stimme im Zug teilte uns in zwölf Sprachen mit, dass wir bei Höchststeigungen von 25 Prozent einen Höhenunterschied von 1400 Meter überwanden.
Endlich, endlich waren wir oben.
Der Strom der Touristen überflutete die Bergstation des Jungfraujochs. Ein Schild zeigte an, dass wir nun 3475 Meter hoch waren. Die Japaner und Amerikaner griffen nach ihren Fotoapparaten und verteilten sich irgendwo in der unheimlichen Unterwelt, die sich nach mehreren Richtungen verzweigte. Emil und ich stapften, jeder ein Kind auf dem Arm und ein Kind an der Hand, tapfer die Treppen rauf. Die Kleinen hatten wir in Wolldecken gewickelt.
Es war sehr kalt.
Und dann standen wir plötzlich im ewigen Eis!
Es war unglaublich. Die Sonne blendete so, dass wir minutenlang mit den Augen kniepen mussten. Wohin wir sahen – es war alles weiß! Rund um uns ruhten die majestätischen Gipfel, alle schneebedeckt, und hoben sich scharfkantig gegen den tiefblauen Himmel ab. Über unseren Köpfen kreisten unzählige schwarze Krähen und stießen krächzende Laute aus.
»Boh, ey«, sagte Karl. »Voll die Berge!«
»Ich will sofort Ski fahren«, schrie Oskar und hüpfte an meiner Hand. »Los, Mama, kauf mir Skier!«
»Ich will auch Ski fahren«, jammerte Katinkalein und sprang an meiner Hand auf und nieder.
»Nicht hüpfen«, sagte ich. »Ist glatt!«
»Snowboard ist viel geiler«, sagte Karl.
Vor uns erstreckte sich ein breiter Weg, auf dem die Touristen vereinzelt und vorsichtig einherstapften.
Ich sah Emil fragend an. Warum sagte der denn nichts?
Emil starrte auf die vereiste Hochgebirgswelt.
»Ich habe noch nie Schnee gesehen«, sagte er plötzlich.
»Nein? Noch nie?« Die Kinder lachten ihn aus. »Hahaha, der Blödmann, der hat noch nie Schnee gesehen!«
Karl und Oskar bückten sich und formten sofort ein paar schöne, dicke Schneebälle, die sie Emil um die Ohren warfen.
»Vorsicht, Vorsicht, das Paulinchen!«
Ich nahm Emil den Tragesack ab, und er band ihn mir um den Bauch. Vorsichtig schloss er an meinen Schulterblättern die Gurte. Er schob sacht meine Haare beiseite, damit sie sich nicht unter den Gurten einklemmten.
Dann legte sich Emil mitten in den Schnee und ließ sich bewerfen. Was musste das für ein Gefühl sein! Mit neunzehn Jahren zum ersten Mal Schnee zu sehen, zu spüren, zu fühlen, zu riechen! Der erwachte doch gerade erst zum Leben, der Emil! Und dann auf diese heftige Weise!
Ich hockte mich mit den beiden Kleinen auf eine Aussichtsbank und genoss das wilde Spektakel. Die Jungen tobten und lachten, Emil robbte plötzlich wie ein wildgewordener Yeti mit Armen und Beinen durch den Tiefschnee, tauchte darin unter, stieß juchzende Schreie aus, seine Stimme überschlug sich wie bei einem wiehernden Junghengst, er versuchte die Jungen an den Beinen zu fassen, sie warfen sich gegenseitig um und seiften sich ein, sie schrien und kreischten, Katinka hüpfte auf und nieder und feuerte sie an, und selbst das kleine Paulinchen lugte neugierig unter seinem Mützchen hervor und blinzelte in die gleißende Sonne.
Ich kam mir vor wie ein stolzes, reiches Muttertier. Zufrieden ließ ich den Blick schweifen.
Der Aletschgletscher vor uns sah aus wie eine riesige Rutschbahn, die ins Nichts führte. Soweit das Auge reichte: Schnee, Eis, glänzende weiße Fläche. Es sah einladend aus. Man wollte sich am liebsten auf den Hosenboden setzen und in die endlose, weite, sanfte weiße Welt entgleiten. Ohne jemals wieder über Einschaltquoten und Outfit und schlechte Kritiken nachzudenken. Hier oben gab es so was nicht. Hier war der Anfang zum
Weitere Kostenlose Bücher