Der gemietete Mann: Roman (German Edition)
Paradies.
Plötzlich fühlte ich mich sehr glücklich. Wir hatten es geschafft! Wir waren mit vier Kindern und nach einer durchwachten Nacht hier oben, hier, wo die Sonne schien und der ewige Schnee alle Sorgen und Ängste mit Eis bedeckte, hier, wo alle irdischen und oberflächlichen Gedanken tiefgefroren wurden, wo es nur noch Krähen gab und die unendliche Weite, Stille und herrliche Fernsicht. Wir waren eine Familie! Emil, die Kinder und ich! Ich vermisste niemanden. Ich wollte die Sekunden festhalten.
Die Jungen entdeckten am Wegesrand ein paar alte Pappkartons. Wahrscheinlich hatten andere Kinder sie hier zurückgelassen. Sofort setzten sie sich unter Gequietsch und Gejuchz hinein und rutschten den breiten, gefrästen Weg entlang. Emil stürmte hinterher und schob die Kisten. Man hörte die drei schreien und lachen. Es war nicht gefährlich. Rechts und links des Weges türmten sich meterhohe Schneemauern. Ich ließ sie gewähren. Was sollte ich ihnen erklären, welche Berge hier rechts und links zu sehen waren, die Jurahöhen und der Mönch und der Eiger.
Emil war wie ausgewechselt. So, als wäre eine Last von ihm gefallen. Vielleicht war es nötig, dass er die Sache mit dem Unfall einmal in Worte gefasst hat, dachte ich. Es musste raus.
Und irgendwann erzählt er mir vielleicht, wie das passiert ist.
Die Mittagssonne wärmte wie im Sommer. Ich ging mit meinem Paulinchen im Sack und meinem Katinkalein an der Hand auf dem breiten Weg spazieren und ließ meinen Blick schweifen. Was waren das eigentlich für Gefühle, die da an meinem Magen sägten? Spätes Glück? Wehmut? Sehnsucht nach der Jugend? Oder war ich etwa in dieses spätpubertierende Kalb verknallt?
Stell auf den Tisch die duftenden Reseden, die letzten roten Astern trag herbei, und laß uns wieder von der Liebe reden, wie einst im Mai …
Später, als die drei sich ausgetobt hatten und mit knallroten Backen und leuchtenden Augen wieder auf mich zugestapft kamen, sagte ich:
»Wollt ihr mal einen Palast aus Eis sehen?«
»Och, nöö, Mama, wir wollen lieber rutschen!«
Aber Emil war wissensdurstig und dankbar. Das tat mir gut. Wenigstens einem jungen Menschen konnte ich etwas bieten.
Wir gelangten durch einen breiten unterirdischen Gang zu einer Höhle, in der zauberhafte Figuren aus Eis zu besichtigen waren. Alle glänzten und spiegelten sich und waren so formvollendet und schön, dass Emil aus dem Staunen nicht herauskam.
»Das ist phantastisch«, murmelte er überwältigt.
Die Jungen fanden es schon wieder langweilig und blöd und alles bloß Eis und Mama ich will wieder runter und ich hab Hunger und hier gibt’s keine Pommes frites.
Emil aber konnte staunen, Emil konnte genießen, Emil konnte sich nicht satt sehen. Wie er da stand, mit meinem Paulinchen vor dem Bauch, behutsam die Arme um mein kleines Mädchen geschlungen, und dabei mit seinen braunen Augen unter seiner Schirmmütze die Wunder der Natur anstaunte, da konnte ich meinen Blick kaum von ihm abwenden. Du milchjunger Knabe …
Vielleicht war dies der Moment, in dem ich mich wirklich in ihn verliebte. Aber ich wusste es nicht. Und wenn ich es gewusst hätte, hätte ich mit aller Macht versucht, es zu verhindern. Man verliebt sich nicht in einen Neunzehnjährigen, wenn man selber fast vierzig und Mutter von vier Kindern ist.
Die Fastengruppe saß schon bei ihrer morgendlichen Meditation im Garten, als wir ankamen. Ich ersuchte meine Kinder, zu flüstern und die Herrschaften nicht beim Betrachten eines Apfels zu stören. Die Fastenleiterin regte gerade an, den Apfel mit den Händen zu befühlen, festzustellen, wie glatt und rund doch die Oberfläche sei, die Augen zu schließen und den Apfel anschließend wieder auf den Teller zu legen. Alle Herrschaften taten es mit Andacht. Der Apfel solle nun ein weiteres Mal in die Hände genommen werden, sagte die Fastenleiterin, und zwar, um daran zu riechen. Die Erinnerung an diesen Geruch würden nun alle drei Wochen lang in ihrem Herzen tragen, denn vorher würde genau dieser Apfel nicht gegessen werden. Alle hielten sich ihren Apfel unter die Nase und schnupperten daran. Dabei überflog ein banges Lächeln die Gesichtszüge der Fastenteilnehmer. Sie alle hielten die Augen geschlossen und sehnten sich schon sehr nach diesem Moment in drei Wochen, wo sie den Apfel nicht nur beschnuppern, sondern auch verspeisen würden.
Und dafür zahlten die hier so viel Geld? Na gut, für mich bezahlte ja DER SENDER. Danke, du Sender, du edler
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