Der Gentleman
vielleicht auch sechzig – je nach Leistung. Darüber müßten wir uns von Fall zu Fall unterhalten.«
Laut lachte Lucia auf, sprang so temperamentvoll aus dem Sessel, daß ihr die Tischdecke halb von den Schultern rutschte, und rief: »Die Küsse wären also nur als Präsent von dir an mich und nicht auch von mir an dich anzusehen?«
»In diesen Fällen nur von mir an dich, sehr richtig, meine Liebe, handelt es sich doch dabei um ein Arbeitsverhältnis, bei dem der Austausch von Küssen der von dir ins Auge gefaßten Kategorie als beginnende Unzucht zu gelten hätte – ein Tatbestand, der vom Strafgesetzbuch hart verfolgt wird. Hast du das verstanden?«
Das Gelächter der beiden war so laut, daß sie über sich selbst erschraken und es abrupt wieder stoppten. Lucia legte sich die Hand auf den Mund, Robert folgte ihrem Beispiel; über diese ihre Hände hinweg blickten sie einander an und lachten lautlos weiter. Sie hätten sich aber sagen können, daß ihre Diskretion zu spät kam. Im Haus waren längst mehrere ältere Damen darüber im Bilde, daß sich in Lucias Wohnung einiges abspielen mußte.
Die Band im Radio machte endlich Schluß. Das forderte jeden in der weiten Welt, der ihrer Darbietung teilhaftig geworden war, dazu auf, es ihr gleichzutun und sich auch zur Ruhe zu begeben.
»Die spielten gut«, sagte Robert.
»Glaubst du nicht, daß es sich um Schallplatten handelte?« antwortete Lucia.
»Hätte das die Leistung derjenigen geschmälert, deren Spiel einmal aufgenommen worden sein mußte?«
»Sicher nicht.«
»Ich gehe jetzt.«
Das kam so plötzlich von ihm, daß Lucia geradezu erschrak und hervorstieß: »Schon?«
»›Schon‹ ist gut. Weißt du, wer vor der Tür steht?«
»Vor welcher Tür? Vor meiner?«
»Vor deiner und vor allen Türen.«
»Wer?«
»Der helle Tag.«
Wieder mußte sie lachen. Robert, der sich erhoben hatte, holte sich von der Garderobe seinen Staubmantel und schlüpfte hinein.
»Wann sehen wir uns wieder?« fragte er sie.
»Wann Herr Heinz Robs wollen.«
Robert fühlte einen Stich. Dieses war nicht nach seinem Geschmack.
»Sagen wir, heute nachmittag, mein Engel. Aber wo? Wieder bei dir?«
Lucia legte die Stirn in Falten.
»Du kennst doch das Café schräg gegenüber der ›Post‹ – das Café Schuh?«
»Ja, habe ich schon gesehen.«
»Dort, im ersten Stock rechts hinten am Fenster, ist der Tisch, an dem ich am liebsten sitze. Dahin darfst du kommen.«
Robert riß die Augen auf.
»Soso, ich darf?«
Lucia blitzte ihn an.
»Jawohl, denn darin kannst du eine Auszeichnung sehen. An diesem Tisch ist mit mir zusammen noch kein Mann gesessen.«
Da mußte er sie ganz einfach noch einmal ganz liebevoll in seine Arme nehmen.
Man wird eben so weich, so zärtlich, wenn es Frühling ist.
Und dann stand Robert Sorant auf der Straße, schlug den Mantelkragen hoch, lauschte kurz auf das Rauschen der Wälder, sah in den Blütenkelchen die Tautropfen wie Perlen schimmern, atmete die frische Luft des Morgens ein und schritt dem roten Schein am Horizont entgegen. In dieser Richtung lag sein Hotel.
Auf halber Strecke fing er an zu pfeifen.
Ein Bahnbeamter, der zum frühen Dienst mußte, begegnete ihm und wunderte sich sehr, daß es einen Menschen geben konnte, der um diese Zeit ein fröhliches Gesicht machte und vergnügt vor sich hinpfiff.
Es sei denn, er ist besoffen, sagte sich der Bahnbeamte und blickte sich über die Schulter noch einmal nach dem seltsamen Unbekannten um, den er soeben passiert hatte.
In der Kölner Straße 20 aber, oben in der verräucherten Wohnung, bückte sich ein Mädchen mit schwarzen Locken und hob vom Teppich eine kleine Karte auf, die Sorant aus der Tasche gerutscht sein mußte.
Es war eine Visitenkarte.
›Heinz Robs‹, stand darauf, ›Buchhändler, Köln‹.
Und das Mädchen Lucia drückte die Karte an seine Brust und flüsternd lächelnd: »Du Schwindler, du lieber großer Schwindler …«
Sorant besaß die Gewohnheit, auf allen seinen Reisen einen Wecker mitzunehmen. Mag sein, daß er seiner Armbanduhr nicht traute; mag auch sein, daß er die Festigkeit seines Schlafes richtig einschätzte; jedenfalls packte er immer und überall, wo er sich zum Schlafengehen rüstete – in Hotels, Pensionen, Scheunen und auf Mooskissen, morgens, mittags oder abends –, zuerst seinen Wecker aus und zog das Klingelwerk auf.
Doch dieser Wecker hatte seine Mucken. Er war alt, es gebrach ihm daher an Zuverlässigkeit. Manchmal vergaß er einfach,
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