Der Gentleman
Frühling aus dem Boden brechen. Wollte heraus aus dieser Welt der Schlote, Dampfsirenen, Kohlenhalden und Förderbänder.«
Robert nickte. Er verstand dies, verstand es sogar sehr gut. Trieb ihn nicht auch die gleiche Sehnsucht nach Schönheit und Frieden von Ort zu Ort? Aber wie selten findet man eine Annäherung der Wirklichkeit an die Wünsche?
»Hast du keine Eltern mehr?«
»Doch, eine Mutter. Sie lebt noch in Mülheim. Vater war Ingenieur. Die Arbeit rieb ihn früh auf. Er schonte sich viel zuwenig, ließ sich von der Pflicht auffressen.«
Eine kleine Pause entstand. Die Rokoko-Uhr tickte. Wie Tropfen fielen die Laute ins Zimmer … tick … tick … tick … tick …
Robert sah sich im Raum um.
»Und nur deiner Sehnsucht nach Natur zuliebe hast du dir diese verhältnismäßig große Wohnung eingerichtet?«
Lucia Jürgens schüttelte den Kopf.
»Ich habe sie gemietet, so wie sie hier steht. Sie gehört einer Dame, die den Frühling in Sorrent, den Sommer in Westerland, den Herbst in Nizza und den Winter in St. Moritz verlebt.«
»Und wann kommt sie bei diesem Programm einmal hierher?«
»Zwischendurch, zwei-, dreimal im Jahr, immer nur auf ein paar Tage. Sie war froh, daß jemand, der ihr zusagte, hier einzog und ihr die Wohnung in Ordnung hält. Deshalb ist auch die Miete, die ich zu bezahlen habe, lächerlich gering.«
Robert Sorant gefiel das. So etwas hatte er sich als junger, unbekannter Schriftsteller auch immer gewünscht: eine Wohnung, in der er repräsentieren konnte; er selbst im Frack, das Haus voller Gäste, und alles praktisch umsonst, alles gratis … ein Mäzen kam dafür auf.
Doch wie anders hatte bei ihm die Wirklichkeit ausgesehen!
Robert Sorant hatte kämpfen, die Zähne zusammenbeißen müssen. Können, nichts als Können war gefragt gewesen. Ja, und jetzt hatte er wirklich seine Villa, eine süße, kleine Frau – sein Möpschen –, und er war bekannt und geschätzt; die Verleger hofierten ihn.
Aber der Preis waren einige graue Strähnen, die sein blondes Haar schon sprenkelten.
Diese Lucia freilich hatte seinen eigenen Traum in die Wirklichkeit umgesetzt – sie lebte fast gratis in einer angenehmen Umgebung, buk Kartoffelküchelchen und verdiente sich ihren Lebensunterhalt mit kleinen Aquarellen, Plakatentwürfen, Gelegenheitsgrafiken.
Plötzlich mußte Robert Sorant lachen.
Lucia blickte ihn erstaunt an.
»Warum lachst du?«
»Weil ich das entzückend finde, daß du praktisch keine Miete bezahlst. Eigentlich lebst du hier inmitten deines Frühlings wie ein richtiger Bohemien, weißt du das? Du nimmst den Tag, wie er kommt, pfeifst mit den Vögeln, lachst mit der Sonne, und wenn das Portemonnaie leer ist, malst du ein Blümchen, stellst es ins Fenster, ein Käufer kommt vorbei, und wieder kannst du eine Woche lang pfeifen, lachen und dich des Lebens freuen. Entzückend finde ich das, so losgelöst, so frei sein.«
Lucias Augen wurden auf einmal groß, groß und glänzend. Stürmisch ergriff sie Roberts Hand und zog sie an ihre Brust.
»Heinz«, rief sie, »willst du dieses Leben mit mir leben … nicht immer … ich weiß … du würdest doch einmal ausbrechen … aber diesen Frühling … diesen einen Frühling nur … wir zwei, ganz allein, inmitten der Wälder, Seen, Blumen, Hügel … über uns der blaue Himmel, unter uns der Teppich der Natur … und wir wollen die Zeit verrinnen lassen, achtlos, ohne Kalender, ohne Zeitung, ohne Uhr … wir wollen frei sein, im Raum unserer Fantasie schweben … so ganz und gar bei Gott sein.«
Sorant wollte das gern. Sorant war begeistert von der Idee. Sorant war rettungslos verliebt. Schon gedachte er ›ja‹ zu sagen, da fiel ihm der Brieffetzen wieder ein. ›Du Wüstling!‹ stand darauf.
»Es wäre schön, unendlich schön«, meinte er langsam. »Aber …«
»Kann es noch ein Aber geben?«
»Mein Leben in Köln …«
»Warum sagst du es nicht präziser: deine Frau …«
Robert nickte wortlos, und er blieb noch eine Weile stumm.
Lucia wandte sich ab. Nervös spielten ihre Hände auf der Sessellehne. Dann fing sie an, zu trommeln, schnell, immer schneller.
»Warum bist du eigentlich bei mir?« fragte sie nach langer Pause.
»Weil ich dich liebe.«
»Aber deine Frau liebst du auch.«
»Ja.«
»Wie willst du da mit dir ins reine kommen?«
Sorant senkte den Kopf.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber du weißt, daß du drei Menschen unglücklich machst: dich, deine Frau und mich.«
Sorant schüttelte verneinend den
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