Der Geruch von Blut Thriller
und hört das Echo zurückkommen. Wenn dort jemand stünde, klänge es anders, wie bei einer Schaumkrone, die über einem Hindernis bricht. Der technische Begriff lautet »menschliche Echoortung« und bezeichnet die Fähigkeit von Blinden, Schallwellen im Gesicht zu spüren.
Aber Finn spürt sie überall. In den Schultern, an den Händen, auf den Rippen. Noch so ein Thema, bei dem seine Psychiaterin offenbar glaubt, dafür bezahlt zu werden, Dinge zu sagen wie: Lassen Sie uns später nochmal darauf zurückkommen.
Vi ist weg.
Ihm wird schwindlig, er muss sich an der Wand abstützen. Es ist mehr als nur Benommenheit, eher so etwas wie eine starke punktuelle Depression. Als fiele er in ein tiefes Loch. Ein Gefühl, das ihn von Zeit zu Zeit überkommt. Es hat weniger mit Angst zu tun als mit Isolation, einer grausamen Sinnesberaubung, der unendlichen Dunkelheit, die ihn manchmal unter ihrem Gewicht zu begraben droht.
Finn muss sich an der Wand abstützen.
Die Wand gibt seiner Hand Form. Die Form seiner Hand gibt seinem Arm Substanz. Mit Hilfe des Arms lässt sich der Oberkörper nachzeichnen. Daraus wächst der Hals. Er spürt sein Gesicht und seinen Kopf wieder. Und in seinem Schädel liegt das Gehirn, und darin sein Verstand, und darin er selbst.
Finn holt tief Luft, das Gefühl ebbt ab und ist schließlich vorbei.
Das Dach knarrt und klappert, als liefen Kinder darüber. Aus dem Heulen und Pfeifen wird eine Melodie, die ihm bekannt vorkommt. Er horcht, lässt die Musik in sich wirken. In der Stadt hielt der Beton den Wind zurück und wartete darauf, dass man um die Ecke kam, bevor er einem ins Gesicht schlug.
Roz ist irgendwo draußen im Schnee, genau wie Harley. Er stellt sich vor, wie sie gegen den Sturm ankämpfen und dabei direkt aufeinander zusteuern. Er fragt sich, ob das, was das Mädchen ihm sagen wollte, am Ende überhaupt von Bedeutung ist.
Er hört ein lautes Geräusch unten.
Eins, das er schon oft gehört hat.
Das Geräusch eines fallenden Körpers.
»Hallo?«, ruft er.
Jemand ist zusammengebrochen. Fast leichtfüßig nimmt er die Stufen, die linke Hand am breiten Holzgeländer, in der Rechten den Gehstock. Wieder durchdringt ihn die Geschichte des Gebäudes. Tausende von Menschen sind durch diese Flure gelaufen. Dutzende sind in diesen Räumen gestorben. Und die geistern genauso durchs Haus wie jeder andere auch.
Finn steht im Erdgeschoss auf dem unebenen Schieferboden. Der Geruch von Duchess’ Keksen liegt noch in der Luft, ihm knurrt der Magen. Er hat sein Abendessen kaum angerührt.
»Ist da jemand?« Dann bestimmter: »Antworten Sie.«
Sein Instinkt lässt ihn gebeugt laufen, den linken Arm erhoben, als würde er durch einen Boxring schreiten. Er senkt den Kopf leicht und schwingt den Stock etwas stärker als nötig. Seine Körpersprache ist aggressiv, sie muss es sein.
Er biegt nach links, in Richtung Murphys Apartment. In diesem Flügel waren früher die Hotelangestellten untergebracht. Abgesehen von Murphys Apartment werden hier jetzt Möbel und Geräte gelagert. Bohnerbesen, Farbe, Werkzeug, alles, was Murphy und seine Leute brauchen, um St. Val’s in Schuss zu halten. Die Hausmeisterschuppen stehen beim Westtor, dem hinteren Teil des Gebäudes. Murphy kann dort ein und aus gehen, ohne den Unterricht zu stören.
Murphys Tür ist fast nie verschlossen, doch jetzt ist sie es. Er klopft so kräftig, dass die Scharniere quietschen. Niemand antwortet.
Er versucht es noch einmal. »Murphy, lass mich rein.«
Irgendwo liegt ein Körper auf dem Boden. Er sieht Harley Moon mit einem Beil in der Hand, zu ihren Füßen Murphys verdrehter Körper, die Brust gespalten. Er sieht Murphy mit einer seidenen Krawatte in den Händen über dem schwarz angelaufenen Gesicht des Mädchens, aus dem die Zunge heraushängt. Er sieht Roz, wie sie ihn mit Murphy betrügt, halb auf dem Bett liegend, halb auf dem Boden, in irgendeiner verrückten Kamasutraposition. Finn drückt die Hand gegen die Tür.
Okay, vielleicht hat er es sich eingebildet. Das kommt vor. Vielleicht war es der Schnee auf dem Dach. Ein Ast, der gegen einen Fensterladen geschlagen ist.
Finn zieht den Mantel an, geht durch den Hinterausgang in Richtung Mädchenwohnheim, zu Hotelzeiten das Torhaus. Es schneit jetzt noch heftiger. Er stolpert über einen schon vor längerer Zeit geräumten Weg. Die Knöchel stecken im Schnee, aber der Weg verläuft geradeaus, und wenn er den Gehstock schwenkt, fühlt er zu beiden Seiten die
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