Der Gesandte der Götter (German Edition)
warum ich Chiron zu dieser Aufgabe verurteilte und warum er allein gehen muss. Wenn überhaupt, können wir nur mit Heimlichkeit etwas zu Leoris‘ Rettung unternehmen. Darum sorge dich nicht zu sehr, Loara, denn Chiron ist das bewusst und er wird sein Leben hüten, so gut er kann, denn er steht im Wort.“
Mit kummervollem Herzen wandte Loara sich ab und kehrte zurück in ihre Gemächer.
Auch Chiron war in seine Räume zurückgekehrt, wo ihn der alte Ordin mit besorgtem Blick erwartete. Wortlos warf sich Chiron in einen Sessel und starrte vor sich hin. Eine Weile schwieg auch Ordin, doch dann konnte er Chirons leeren Blick nicht mehr ertragen.
„Kann ich denn gar nichts für Euch tun, Herr?“ fragte er leise. „Eure Verzweiflung erdrückt mir das Herz!“
Chiron schrak hoch wie aus einem tiefen Traum. „Nein, Ordin, niemand kann mir helfen! Was mir jetzt auferlegt ist, muss ich allein tragen, denn ich allein habe es verschuldet. Statt den Göttern für meine Freiheit zu danken und auch mein weiteres Schicksal ihrer Führung zu überlassen, habe ich mich rächen wollen. Ich habe die Prüfungen, die sie mir auferlegten, nicht bestanden. Und nun haben sie sich von mir abgewandt. Soradan hat bestimmt, dass nur Leoris‘ Befreiung mich von meiner Schuld entbinden kann. Doch wie soll ich das je schaffen? Wenn Menas Leoris in den Verliesen gefangen hält, wie soll ich in das Schloss eindringen, das zu Gefahrenzeiten von hundert ausgesuchten Kämpfern bewacht wird – wenn Menas nicht von den alten Traditionen abgewichen ist und sogar noch mehr Soldaten im Schloss hat. Ach, Ordin, ich bin so mutlos! Gar zu übermächtig sind die Schwierigkeiten, die ich überwinden muss. Und doch weiß ich, dass mir keine andere Wahl bleibt, als es zu versuchen.“
„Herr, vielleicht kann ich Euch doch helfen“, sagte Ordin aufgeregt, „zumindest was einen Weg in das Schloss anbelangt. Erinnert Ihr Euch denn nicht an den verfallenen Geheimgang, den ich Euch einmal zeigte, als Ihr noch ein Knabe wart? Euer Vater hatte mir zwar verboten, euch Kindern von dem Gang zu erzählen, da er schon halb zugeschüttet und ständig von weiterem Einsturz bedroht ist. Der König befürchtete nämlich, dass ihr in kindlicher Neugier dort Schaden nehmen könntet. Euren Bruder hatte so etwas nie interessiert, aber Ihr stöbertet stets in den verlassensten Winkeln der Burg herum. Daher zeigte ich Euch einmal den Eingang, damit Ihr nicht durch Zufall dort hineingerietet, ohne dass jemand davon wusste, und Ihr vielleicht verloren gewesen wäret. Ich warnte Euch vor dem Gang, und ich wusste genau, Ihr würdet meine Warnung beherzigen und nicht allein dorthin gehen. Aber der Gang ist noch da . Er führt außerhalb des Schlosses in ein dichtes Brombeergebüsch, das mit den Jahren fast undurchdringlich geworden ist. Wenn der Gang auch halb zerfallen ist und jederzeit weiter einstürzen kann, so mag er doch vielleicht die einzige Möglichkeit sein, ungesehen ins Schloss zu kommen. Aber ich befürchte, auch wenn Euch auch niemand sieht, Xoras wird Eure Nähe spüren. Seine Kräfte sind in den Jahren mehr und mehr gewachsen, je länger Menas ihm erlaubte, ohne Störung sein Unwesen zu treiben. Bedenkt, er hat sogar gewusst, dass wir auf dem Weg zu Soradan waren! Ihr müsstet Kräfte wie Rotron besitzen, um ihn zu täuschen.“
„Aber ich kann auf Rotrons Hilfe nicht mehr zählen“, sagte Chiron bedrückt, „denn ich habe nicht auf seine Weisung gehört. Ich habe somit das Recht verloren, seinen Beistand zu erflehen. Diese Chance habe ich vertan, denn genau wie er es mir vorhersagte, hat meine Rache den Falschen getroffen und ist auf mich selbst zurückgefallen. So werde ich also den Weg durch den Stollen versuchen müssen und sehen, was daraus wird. Doch hast du mir mit deiner Erinnerung an den alten Gang ein wenig Hoffnung gegeben, Ordin. Dafür danke ich dir. Morgen, wenn es tagt, werde ich aufbrechen und meinem Schicksal entgegen reiten.“
„Lasst mich mit Euch ziehen, Herr! Vielleicht kann ich Euch nützen“, bat Ordin.
„Nein, Ordin, ich kann dich nicht mitnehmen“, wies Chiron ihn zurück. „Du würdest nur in Gefahr geraten, und ich möchte nicht, dass der letzte Freund, der mir geblieben ist, durch mich sein Leben verliert. Bleib hier und genieße endlich deinen Lebensabend, denn ich bin gewiss, dass Soradan und Miria gut für dich sorgen werden. Ich bitte die Götter, dass es mir vergönnt sein möge, eines
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