Der Gesandte der Götter (German Edition)
Morgen hatte sich Leoris‘ Pferd ein Stückchen vom Lager entfernt und knabberte genüsslich an einem Busch, der saftige grüne Blätter trug. So war der Prinz gezwungen, das Pferd zurückzuholen. Der Braune dachte gar nicht daran, das leckere Futter so schnell zu verlassen, und so vergingen einige Minuten, bis Leoris wieder zu den anderen zurückkehren konnte.
Loara hatte seine Abwesenheit dazu benutzt, Chiron zuzuraunen: „Ich glaube, mein Bruder ahnt etwas, und ich merke, dass es ihm nicht recht ist. Ich kann zwar nicht verstehen, warum er etwas gegen unsere Verbindung hat, aber er sieht uns immer mit sehr zornigen Blicken an.“
„Ich habe es auch schon bemerkt“, antwortete Chiron. „Aber im Gegensatz zu dir weiß ich genau, warum er zornig ist. Dass ich dich liebe, habe ich ihm gestanden, und erscheint gemerkt zu haben, dass auch du mich liebst. Doch er grollt mir genauso wie dein Vater wegen meiner unseligen Tat und findet, dass ich deiner nicht würdig bin. Und wenn ich ehrlich bin, so muss ich ihm Recht geben und kann seinen Zorn auf mich gut verstehen. Was habe ich meinem Vergehen entgegenzusetzen, womit ich seine Achtung hätte erringen können?“
„Du hast dein Leben gewagt, um ihn zu retten!“ ereiferte sich Loara. „Der Versuch, ihn zu befreien, hat dir die Qualen eingebracht, die Menas dir zufügte. Deiner Standhaftigkeit verdankt er das Wissen um den Geheimgang, durch den wir aus der Burg fliehen konnten. Und die Dinge, die auch ihm zur Flucht verhalfen, hat Rotron mir für dich mitgegeben, nicht für ihn! Wie kann er es wagen, den Mann zu verachten, dem er die Freiheit verdankt!“ Zorn blitzte in ihren Augen auf und sie war wieder ganz die hoheitsvolle Prinzessin, deren kühle Überlegenheit Chiron schon bei ihrer ersten Begegnung so bewundert hatte.
„Ich sehe das etwas anders als du“, versuchte er sie zu beschwichtigen, „und wir sollten ihm besser keinen Anlass zum Zorn geben. Doch still jetzt! Er kommt zurück.“
Leoris kam herangetrabt, und nun schwang sich auch Chiron hinter Loara aufs Pferd.
„Wann, glaubst du, werden wir auf den Vater treffen?“ fragte Leoris seine Schwester. Nicht nur aus Sorge über eine Verfolgung wollte er so schnell wie möglich mit Soradan zusammentreffen.
„Morgen sollten wir auf jeden Fall auf die Straße zurückkehren“, sagte Loara, „denn ich bin sicher, dass der Vater dem Heer größte Eile geboten hat. Die Kunde von der Ankunft der Streitmacht müsste sich schon verbreitet haben, und so werden wir zumindest erfahren können, wo wir darauf stoßen werden. Ich sehne mich so sehr nach unserem Vater!“ schloss sie leise.
„Mir macht aber Sorgen, dass wir außer Loaras Schwert und Bogen keine Waffen haben“, sagte Chiron. „Falls uns Menas‘ Späher entdecken, ehe wir Soradans Vorhut erreichen, können wir uns nicht einmal verteidigen. Loara, sagt, seid Ihr mit genügend Geld versehen, dass wir uns ein paar gute Waffen kaufen können? Wir werden gegen Abend in die Nähe einer kleinen Stadt kommen, in der es einen guten Waffenschmied gibt. Dann könnte ich versuchen, die Waffen zu besorgen, während ihr in Deckung bleibt, bis wir uns wieder verteidigen können.“
„Ja, ich habe genug Gold“, antwortete Loara, „doch solltet nicht Ihr gehen, um die Waffen zu besorgen. Ich werde gehen, denn Menas weiß nichts von meiner Anwesenheit. Man hält also nach zwei Männern Ausschau, aber eine einzelne Frau wird niemand beachten.“
„Das kommt überhaupt nicht infrage!“ protestierten beide Männer wie aus einem Munde.
Loara lachte. „Welch erfreulicher Anblick, euch beide so einig zu sehen!“ spottete sie. „Aber gut, ich füge mich! Aber Ihr müsst mir versprechen, Chiron, sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg Rotrons Tarnmantel zu verwenden.“
„Das werde ich Euch gern versprechen“, sagte Chiron, „zumal mir dann niemand folgen kann, um euren Aufenthaltsort herauszufinden. Lasst uns jetzt etwas schneller reiten, damit wir auch wirklich gegen Abend bei der Stadt sind.“
Als die Sonne sich dem Horizont zuneigte, brachte Chiron sie so nahe es ging an die Stadt heran, ohne dass sie die Deckung des Waldes verlassen mussten. An einer Stelle am Waldrand, die mit dichtem Unterholz bewachsen war, stiegen sie von den Pferden. Leoris und Loara zogen sich mit den Tieren in das dichte Gestrüpp zurück. Chiron legte Rotrons Mantel um und ging auf die Stadt zu. Im Gürtel trug
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