Der Gesandte des Papstes
Seher machten sich ihre Gabe zu Nutze und fanden bald heraus, dass ich das Zepter genommen hatte. Das Zepter selbst konnten sie nicht aufspüren, denn Salomo hatte es vor meinen Vorfahren verbergen wollen und mit einem Bann versehen, der es unauffindbar für unsere Seher machte. Mein Vater war außer sich vor Zorn und drohte mir die schlimmsten Strafen an, falls ich ihm nicht verriet, wo es sich befand. Ich sagte ihm, es sei in Sicherheit. Ich fürchtete mich vor ihm, aber noch schlimmer war die Vorstellung, Antonius das Zepter wieder wegzunehmen. Menschen heilen zu können, hatte ihn so glücklich gemacht, dass er aufgehört hatte, an Gott zu zweifeln. Außerdem befürchtete ich, mein Vater könnte ihm etwas antun, wenn er erst begriff, dass Antonius und ich uns liebten.
Mein Vater beschwor mich, und schließlich flehte er mich sogar an, ihm das Versteck des Zepters preiszugeben. Als ich weiter
schwieg, ließ er mich in meinen Gemächern einsperren. Die Ältesten waren zusammengekommen und berieten, was zu tun war. Sie entschieden sich für die härteste Strafe, die unser Gesetz kennt: Mir sollten die Gaben der Heilkunst und des zweiten Gesichts genommen werden, was mich zu einem Krüppel machen würde. Dann sollte ich verbannt werden.
Die beiden Gaben waren bei mir erst schwach entwickelt; der Verlust kümmerte mich nicht. Vor der drohenden Verbannung dagegen fürchtete ich mich, und ich war kurz davor, Antonius zu verraten. Doch als man mich aus dem Dorf führte, rief mir mein Vater hinterher, dass ich Schande über die Familie gebracht habe und er mich verstoße. Hass erwachte in mir. Hass auf meinen Vater, dem sein Ansehen wichtiger war als ich. Hass auf mein Volk, das für die Menschen nur Verachtung übrig hatte. Hass auf unsere Ältesten, die um unserer Sicherheit willen das Zepter tausend Jahre lang versteckt hatten, während die Menschen Krankheiten erleiden mussten. Ich ging in die Wüste und schwor, nie mehr zurückzukehren.
Wochenlang wanderte ich ziellos umher. Ich sehnte mich nach Antonius, doch ich wagte mich nicht in seine Nähe. Ich wusste, dass ich von Männern meines Vaters verfolgt wurde, die hofften, ich würde sie zum Zepter führen. Erst Monate später, als ich sicher war, sie abgeschüttelt zu haben, ging ich zu ihm. Er hatte geglaubt, ich wäre tot, und bestürmte mich mit Fragen. Ich erzählte ihm, was geschehen war, und überzeugte ihn, die Gegend zu verlassen. Seine Einsiedelei war zu nah bei meinem Dorf. Er war einverstanden, und so zogen wir durch Ägypten. Dreißig Jahre lang. Nirgendwo blieben wir lange, denn immer fürchtete ich, mein Volk könnte uns finden.«
Dreißig Jahre … Antonius wurde alt, aber du bliebst jung, dachte Raoul. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Das Feuer war wieder schwächer geworden, doch Raoul legte kein neues Holz nach. »Wie wurdet ihr getrennt?«, fragte er nach einer Weile des Schweigens.
Jadas Blick verdunkelte sich. »Es geschah während der Christenverfolgung, bei einem Blutbad von römischen Legionären an Anhängern von Antonius. Er hielt mich für tot und verließ das Land, ohne dass ich etwas davon erfuhr. Ich suchte ihn jahrelang. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er nach Armenien gegangen war.«
»Wieso hast du Athanasios nicht gefragt? Du hast ihn doch sicher gekannt.«
»Ich habe ihn gefragt. Er sagte, er wisse es so wenig wie ich. Er hat gelogen; das ahnte ich schon damals. Er war nie damit einverstanden, dass sein Freund eine Gefährtin hatte. Es muss ihm ganz recht gewesen sein, dass Antonius mich für tot hielt.« Er hörte den Zorn in ihrer Stimme. »Seine Nachfolger waren noch schlimmer. In ihren Augen war Antonius der erste Mönch der Christenheit. Alles, was an seinem Leben nicht zu ihrem Bild des reinen, enthaltsamen Einsiedlers passte, verdrehten oder verschwiegen sie. Sie verboten, mich in Geschichten über Antonius zu erwähnen. Beweise unserer Liebe - Briefe, Tagebücher - wurden vernichtet. Es sollte mich nie gegeben haben. Eine Zeitlang wehrte ich mich dagegen, aber irgendwann gab ich auf. Es hatte einfach keinen Zweck.«
Der Feuerschein lag auf ihrem Gesicht wie eine heidnische Maske. Raoul dachte an die Bilder, die er in Kardinal Morras Bücherzimmer gesehen hatte. Auf fast allen war Antonius dargestellt, wie ihm Luzifer in Gestalt einer begehrenswerten Frau erschien, um ihn von Gott zu entfernen. Das war alles, was noch an Jada erinnerte: eine gewaltige Lüge, die so oft wiederholt worden war, bis niemand mehr
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