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Der Gesandte des Papstes

Titel: Der Gesandte des Papstes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Lode
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Viele Häuser standen leer. Von vielen Kirchen und Amtsgebäuden standen nur noch Trümmer, seit sie von Kreuzfahrern und Venezianern 1204 geplündert worden waren. Die von Büschen und Gras überwucherten Ruinen gehörten ebenso zum Stadtbild wie die Hagia Sophia auf dem Hügel am Ende der Landzunge oder die allgegenwärtigen Zisternen und Aquädukte. Einst hatte eine halbe Million Menschen innerhalb der Stadtmauern gelebt, heute war es nur noch ein Zehntel davon. Ganze Stadtteile waren verlassen und verfielen - und niemand schien sich daran zu stören. Es lag an der Selbstverliebtheit der Byzantiner, die Kadar schon als Knabe beobachtet hatte. Diese Narren benahmen sich, als seien sie Auserwählte, die ein steingewordenes Paradies im Mittelpunkt der Welt bewohnten, blind dafür, dass ihre Zeit längst vorüber war.
    Er hatte seine Männer in einem Hurenhaus am Hafen zurückgelassen und durchquerte die Stadt in Richtung des Hippodroms, der alten Pferderennbahn. Der Regen hatte aufgehört, und die Abendsonne schien durch die aufgerissene Wolkendecke, brachte die Kuppeln der Kirchen zum Glühen. Er fand das Haus auf Anhieb: Es stand an einem kleinen, quadratischen Platz, der vom achteckigen Turm eines heruntergekommenen
Gotteshauses überragt wurde. Kadar rieb sich das verstümmelte Ohr, während er das Anwesen betrachtete. Es war zweistöckig, der Eingang wurde von zwei Greifen aus schimmerndem Porphyr flankiert. Er erinnerte sich an alles, an jedes einzelne Zimmer, sogar an den Moment, als er im Brunnen im Innenhof sein Spiegelbild betrachtet hatte, während er auf seinen neuen Herrn wartete. Du kannst gar nichts tun, hatte er damals gedacht. Jetzt bist du genauso schwach wie deine Schwester.
    Auf den ersten Blick sah das Haus unbewohnt aus, aber dann bemerkte er eine Gestalt in einem der Fenster. Er wandte sich zu einem Laden um, wählte einen Apfel aus und gab dem Jungen hinter den Auslagen eine Münze. Es war lange her, dass er Griechisch gesprochen hatte, aber nach kurzem Überlegen fielen ihm die richtigen Worte ein. »Wer wohnt dort?«
    Der Junge folgte seinem Blick. Als er sich wieder Kadar zuwandte und ihn in der Menge der Kunden erstmals bewusst wahrnahm, flackerte in seinen Augen Furcht auf. Der Söldner hatte diese Wirkung auf viele Menschen. Es lag an seinen Augen. Wer ihren Blick auf sich spürte, wusste auf instinktive Weise, dass der hagere, unauffällige Mann einen ohne zu zögern töten würde, wenn es seinen Zwecken diente.
    Der Junge senkte die Augen und fing an, das Obst zu sortieren. »Das Haus gehört einem Edelmann«, murmelte er. »Basileios Lakapenos.«
    »Lebt er noch?«, fragte Kadar.
    »Ja. Aber er ist schon ziemlich alt. Ohne die Hilfe seiner Diener kann er das Haus nicht mehr verlassen.« Als ein anderer Kunde rief, eilte der Junge davon, sichtlich erleichtert, das Gespräch beenden zu können.
    Kadar biss in den Apfel und betrachtete Lakapenos’ Haus. Er kniff die Augen zusammen, denn die tief stehende Sonne blendete ihn. An der Seite des Anwesens gab es eine kleine Pforte für die Küchenlieferanten, die früher nie verschlossen worden war, weil niemand wusste, wo sich der Schlüssel befand. Kadar
hätte sein ganzes Silber darauf verwettet, dass sich daran auch nach neunzehn Jahren nichts geändert hatte.
    Denn ein echter Byzantiner starb lieber, als seine Gewohnheiten aufzugeben.
     
    »Wie heißt das Schriftstück?«
    »Vita Antonii«, wiederholte Harun ibn-Marzuq geduldig. »Der dritte Teil.«
    Der Archivar sah auf seine Liste, murmelte »Latein, Latein«, fuhr mit dem Finger die Zeilen nach unten und verkündete schließlich: »Ich finde es nicht.«
    »Der Titel ist irreführend. Seht bei den griechischen Schriften nach.«
    Der junge Byzantiner, der für einen Mann, der sich den halben Tag in dunklen Kellern aufhielt, eine erstaunlich gesunde Gesichtsfarbe hatte, runzelte die Stirn und blickte wieder auf das Pergament. »Ah, hier. Ganz hinten.«
    Ibn-Marzuq war sich nicht sicher, ob der Archivar wusste, was er tat, als sie durch das Gewölbe gingen. Aber das bestätigte nur seinen ersten Eindruck von der kaiserlichen Bibliothek unter dem Blachernenpalast: Sie war in einem erbärmlichen Zustand, weil sich niemand mehr darum kümmerte. Dabei hatte sie eine Größe, die sich sehen lassen konnte. Regale und Bücherschränke füllten die Freiräume zwischen den Säulen aus, welche die Tonnengewölbe trugen, sodass fünf halbdunkle Flure entstanden. Ibn-Marzuq schätzte den Bestand von

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