Der Gesandte - Mein Leben fuer Palaestina Hinter den Kulissen der Nahost-Politik
halb sieben Uhr abends. Der Neurologe erwartete uns. Auf den Bildern war ein großer Tumor zu sehen, der bereits aus der rechten Hirnhälfte in die linke hineingewachsen war und auch dort alles weggedrückt hatte. Es sei keine Zeit zu verlieren, sagte der Neurologe. Abdallah müsse so schnell wie möglich operiert werden.
Am nächsten Morgen fuhren wir zur Klinik am Venusberg in Bonn. Die Ärztin schaute sich die Bilder an und meinte, der Tumor sei zu groß, um ihn sofort zu operieren, er müsse zunächst durch hohe Kortisondosen zum Schrumpfen gebracht werden. Wenige Tage später stand fest, dass der Tumor nicht auf das Kortison reagierte, und Abdallah hatte mittlerweile Besorgnis erregende Ausfallerscheinungen, konnte nicht mehr selbstständig essen und litt zunehmend unter Sehstörungen. Da entschloss sich der Chirurg Prof. Schramm, nicht länger zu warten. An diesem Tag rief Arafat an. Er war sehr besorgt und schlug vor, Abdallah in London operieren zu lassen. Ich beruhigte ihn, lehnte aber ab, weil Prof. Schramm unser Vertrauen genoss.
Im letzten Gespräch abends vor der Operation war Prof. Schramm ganz offen zu mir. Für das Gelingen der Operation
könne er nicht garantieren. Es könnten Lähmungen und Sehstörungen zurückbleiben, die bis zum Verlust der Sehfähigkeit gingen. »Und wundern Sie sich nicht«, sagte er. »Ihr Mann wird sich nach der Operation verändern, weil sich der verdrängte Teil des Gehirns erst wieder zurechtfinden muss. Erschrecken Sie nicht.« Dann erklärte er mir, dass Abdallah vor der Operation ein Beruhigungsmittel erhalten werde – er hätte also nichts davon, wenn ich vorher vorbeikäme.
Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, schlug den Rat des Chirurgen am nächsten Morgen in den Wind und fuhr um 5.30 Uhr in die Klinik. Abdallah war trotz des Beruhigungsmittels wach und hatte mich tatsächlich erwartet. Auf dem Weg zum Aufzug hielt ich ihm bis zum letzten Augenblick die Hand. Nach sechs Stunden war die Operation immer noch nicht beendet, aber am Eingang wimmelte es schon von seinen Freunden. Dann rief Prof. Schramm an der Pforte an und verband mich direkt mit meinem Mann auf der Intensivstation. Ich hörte seine Stimme … und zum ersten Mal in diesen Tagen weinte ich. Ich hatte dem lieben Gott allerhand Versprechungen gemacht, die ich bestimmt nie einhalten würde, aber es hatte geholfen.
Als ich eintrat, war Abdallah ein Häufchen Elend. Er redete viel – im Gegensatz zu anderen werden Gehirnoperierte nach der Operation wachgehalten. Ich blieb bei ihm, bis die Nachtschicht eintraf. Anderntags setzten die angekündigten Veränderungen ein. Er beschimpfte das Personal, war extrem reizbar, und am übernächsten Tag war er zu meinem wie zum Entsetzen aller nicht wiederzuerkennen: sein Kopf angeschwollen, die Augen winzig, der Mund nur noch ein Strich. Die Freunde, die ihn an diesem Tag besuchten, verließen weinend das Zimmer. Ununterbrochen ging das Telefon. Ich bat darum, die Anrufe nicht mehr durchzustellen. Als mir Arafat gemeldet wurde, machte ich eine Ausnahme. Auch die Anrufe von Joschka Fischer, Johannes Rau und dem Bonner Polizeipräsidenten Dirk Schnitzler nahmen wir entgegen.
Vom siebten Tag an ging es Abdallah besser, und dann erholte er sich sehr schnell. Hätte Johannes Rau nicht auf ihn eingeredet, hätte er wahrscheinlich die Reha verweigert. Ganze zehn Tage hielt er es dort aus. Und plötzlich nahm er wieder am Leben Anteil, staunte über die Farben der Früchte auf dem Bonner Markt, bemerkte das Blau des Winterhimmels, registrierte die Gesichter der Menschen. Abdallah war wieder wie früher. Ein halbes Jahr hatten wir durch den Tumor verloren. Umso mehr Zeit nahmen wir uns jetzt füreinander …
Vor der Operation hatte Arafat auch mit mir gesprochen. »Warte nicht«, sagte er, »triff deine Entscheidung und vertraue auf Gott.« Sechs Wochen nach der Operation reiste er zu einem offiziellen Besuch nach Belgien. Ich setzte mich ins Auto, fuhr mit meinen Begleitern bis zur Grenze und fuhr dann nach Brüssel allein weiter. Ich war noch schwach, ich hatte fünfzehn Kilo abgenommen, aber ich wollte ihn unbedingt sehen. Die Situation in Palästina spitzte sich bereits zu, wenig später machten ihn die Israelis tatsächlich zu ihrem Gefangenen, indem sie ihn in seinem eigenen Regierungsgebäude festsetzten. Arafat umarmte mich mit großer Herzlichkeit, wir nahmen das Mittagessen zusammen ein, und nachmittags fuhr ich zurück. Bonn erwartete mich.
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