Der Gesandte - Mein Leben fuer Palaestina Hinter den Kulissen der Nahost-Politik
der Hüttenwand sahen wir, wie die Soldaten ihren Proviant auspackten, blickten einander an und wagten kaum zu atmen. Meine Mutter flüsterte ohne Unterlass Gebete. Achmed, mein zweitältester Bruder, machte die Geste des Kehledurchschneidens. Gott möge ihnen die Augen verschließen, betete meine Mutter. Die Minuten dehnten sich zu Ewigkeiten, bis nach etwa einer halben Stunde der Motor wieder ansprang und das Kettenrasseln sich entfernte. Wir fühlten uns wie zum Tode Verurteilte, die soeben von ihrer Begnadigung erfahren haben.
Die Hütte war meiner Mutter jetzt genauso verleidet wie unser Haus, aber wohin sollten wir uns wenden? Außer unserem Mechaniker Ismael Silmi fiel uns niemand ein. Im Schutz
der Olivenbäume machten wir uns auf den Weg, und natürlich nahm Ismael Silmi uns auf. Sein Haus war klein, viel zu klein für elf Gäste, trotzdem hielten wir uns bei ihm zwei Tage lang versteckt, bis die Ausgangssperre für ein paar Stunden aufgehoben wurde. Als Nächstes wollten wir es bei der Familie Ayyad in Gaza-Stadt versuchen. Kamel Ayyad war der arabische Arzt, der meinem Vater seinerzeit das Leben gerettet hatte; die beiden waren seither wie Brüder – und auch der alte Kamel Ayyad nahm uns selbstverständlich auf. Sein Haus war wesentlich größer als das des Mechanikers, aber seine Familie war ebenfalls groß, und deshalb war es trotzdem zu klein für uns alle. Mehr als ein Zimmer konnte er nicht an uns abtreten, und mehr als ein Badezimmer gab es nicht. Da wir immer noch keine Nachricht von meinem Vater hatten, richteten wir uns dennoch notdürftig dort ein. Und mein Bruder Mohammed nahm seine konspirative Tätigkeit wieder auf.
Die Israelis waren bei ihrer Besetzung von Gaza anfangs auf Gegenwehr gestoßen, doch war dieser Widerstand mit der gewohnten Brutalität unterdrückt worden. An gewaltsamen Widerstand war vorläufig nicht mehr zu denken, weshalb sich Mohammed einstweilen an den Aktionen der Einheitsfront beteiligte, einem Zusammenschluss aus Fedajin, Kommunisten und Muslimbrüdern, die nach dem Verbot ihrer Partei in den Untergrund gegangen waren. Jetzt half er, Streiks und Demonstrationen zu organisieren. Und nun bestätigte sich mein Eindruck, dass Mohammed schon seit längerer Zeit mit mir rechnete, denn eines Tages übergab er mir einen gefalteten Zettel, nannte einen Namen, warnte mich eindringlich, mich nicht erwischen zu lassen, schärfte mir genauso streng ein, den Zettel nicht zu lesen, und schickte mich los. Das wiederholte sich in den folgenden Wochen häufig, und ich war stolz, endlich eine Rolle in dieser geheimnisvollen und gefährlichen Welt des Widerstands zu spielen. Jedes Mal steckte ich mir den Zettel in die Unterhose und lief los, immer zu Fuß –
das war unauffälliger, so ließ sich auch mal die Ausgangssperre der Israelis umgehen. Erwischt wurde ich nie – aber einmal lief ich bei einem dieser geheimen Botengänge beinahe Ben Gurion, dem Ministerpräsidenten Israels, in die Arme.
Ich erkannte ihn an seinem unverwechselbaren, zerzausten Haarschopf. Er war es, und er lief, bekleidet mit einer blousonartigen, khakifarbenen Armeejacke und einer gleichfarbigen Armeehose, flankiert von einem Dutzend Leibwächtern, mitten auf einer belebten Straße in Gaza-Stadt auf mich zu. Er versuchte, mit den Leuten zu reden, er wandte sich nach links und rechts und sprach sie an, und für mich sah es aus, als würde er sie fragen: »Was macht ihr hier?« Ich blieb stehen, schaute mir den Mann an, und um die Wahrheit zu sagen: Seine Furchtlosigkeit beeindruckte mich. Da lief dieser Ben Gurion mitten im Krieg unter Tausenden feindlich gesinnter Palästinenser in Gaza-Stadt herum! Der Mann hatte Courage – Mohammed gab mir recht, als ich ihm später davon erzählte. Ich wartete, bis er vorübergegangen war, und lieferte dann meinen Brief an der Adresse ab, die Mohammed mir genannt hatte.
Eigentlich hätten die Israelis den Gazastreifen längst verlassen müssen, denn im Grunde war der Suezkrieg eine Woche, nachdem er begonnen hatte, schon wieder vorbei. Die Amerikaner hatten Briten und Franzosen zum Einlenken gezwungen, und bereits am 6. November 1956 war ein Waffenstillstand in Kraft getreten – für die ehemaligen Kolonialmächte eine Blamage, aber auch ein peinlicher Fehlschlag für Israel, das dieses eine Mal sein Kriegsziel nicht erreichte. Die israelische Armee ließ sich dann auch mit dem Rückzug ihrer Truppen Zeit; Gaza wurde erst im März 1957 geräumt.
Die Israelis
Weitere Kostenlose Bücher