Der Gesandte - Mein Leben fuer Palaestina Hinter den Kulissen der Nahost-Politik
nutzten diese Monate dazu, die Führer des Widerstands aufzuspüren und zu verhaften. Es war zu erwarten, dass ihnen dabei auch Mohammed ins Visier geraten würde, jedenfalls tauchten eines Abends israelische Soldaten in Kamel Ayyads Haus auf und nahmen ihn mit. Als Mohammed anderntags
zurückkam, war er bleich und verstört. In der Nacht wachte er schreiend auf, und am Morgen sagte er: »Ich muss weg. Ich gehe nach El-Arish.« Mehr, als dass sie ihn stundenlang verhört hatten, war aus Mohammed nicht herauszubekommen, aber jeder sah, dass er um sein Leben fürchtete.
Wir organisierten seine Flucht. Die ägyptische Küstenstadt im Sinai war nicht mehr von Israel besetzt, dort wäre er in Sicherheit. Jemand nahm ihn im Auto bis zur Grenzstadt Rafah mit, und in derselben Nacht noch machte er sich in Begleitung eines Führers zu Fuß auf den 80 Kilometer langen Weg nach El-Arish, wo er ganz unverhofft auf meinen Vater traf, der zur gleichen Zeit aus Ismailia kam.
Zwei Tage nach Mohammeds Flucht kehrten die israelischen Soldaten zurück. Morgens um drei standen sie plötzlich im Haus und befahlen, uns draußen im Hof an einer Wand aufzustellen. Wo Mohammed sei, wollten sie wissen – die Israelis hatten immer genügend Leute dabei, die fließend Arabisch sprachen. Das, was auf diese Frage folgte, hat sich mir, wie alle Erfahrungen der eigenen Machtlosigkeit, tief eingeprägt. Als Kamel Ayyad nämlich entgegnete, den Aufenthaltsort von Mohammed nicht zu kennen, bekam er einen Schlag ins Gesicht. Wir waren entsetzt. Keiner von uns konnte die Demütigung des alten Mannes mit ansehen, doch nur Achmed wagte es, den Schläger zurechtzuweisen. »Hast du nie gehört, dass man alte Menschen nicht misshandelt?«, fuhr er ihn an. Als Antwort erhielt er einen Fausthieb in den Magen. Und als meine Mutter nun auf den Soldaten losging, der Achmed niedergeschlagen hatte, wurde auch sie gepackt und zu Boden gestoßen. Damit war das Verhör beendet, und die Soldaten zogen ab. Meine Schwester Fatima hatte mich mit aller Kraft zurückhalten müssen, sonst hätte ich mich dazwischengeworfen.
Am nächsten Morgen beschloss meine Mutter, mit uns ebenfalls nach El-Arish zu gehen. Sie fand, dass wir unseren
Freunden genügend zur Last gefallen wären – jetzt mussten sich die Ayyads unseretwegen auch noch die Demütigungen der Israelis gefallen lassen. Eine Tante und ein Onkel schlossen sich uns an, Freunde in Rafah gaben uns zwei Führer und zwei Reitkamele mit, und so brachen wir auf, ein Zug von neun Kindern, fünf Erwachsenen und zwei Kamelen auf dem Weg durch die Sandwüste des Sinai.
Meine Mutter war als Beduinin das Laufen gewohnt. Die Tante aber war eine Städterin aus Jaffa und obendrein dick und stand nun vor der Wahl, die 80 Kilometer nach El-Arish zu laufen oder auf einem der Kamele zurückzulegen. Ich weiß nicht, was sie in den beiden Tagen unserer Wüstenwanderung mehr verfluchte, denn ein Kamel zu reiten ist für Ungeübte eine Qual, und sie hatte noch nie auf einem gesessen. Eine halbe Stunde Laufen hielt sie durch, dann verlangte sie ein Kamel, und jedes Mal war es dasselbe Drama – schon das Erklimmen des Höckers brauchte seine Zeit, anschließend der kritische, stets von einem lauten Angstschrei begleitete Moment, in dem das Kamel sich aufrichtete, und dann das beständige Schwanken, nachdem sich das Tier in Bewegung gesetzt hatte. Die Arme hat sehr gelitten; dazu die Nacht im dürftigen Schutz eines Pferchs aus Dornengestrüpp, dicht aneinandergedrängt, bei eisigem Wind, der einem den Sand ins Gesicht peitschte, und tagsüber der Anblick der ausgebrannten Fahrzeug- und Panzerwracks der ägyptischen Armee … Als wir am späten Abend des zweiten Tags in El-Arish eintrafen, brachen beide zusammen, die Tante und meine Mutter – die eine aus Erschöpfung, die andere vor Glück, ihren ältesten Sohn, vor allem aber ihren Mann wohlbehalten wiederzuhaben. (Sie war in den letzten zwei Tagen mit ihren Gedanken nur noch bei ihm gewesen.) Mein Vater hatte uns bereits erwartet und für alles gesorgt. Während der nächsten drei Monate, bis zum Abzug der Israelis aus Gaza, wohnten wir in einem der Lehmhäuser, aus denen ganz El-Arish damals bestand.
Zum ersten Mal berichtete mein Vater uns, was er erlebt hatte. Völlig ahnungslos war er mit dem Auto am Suezkanal entlanggefahren, als die Engländer mit der Bombardierung der Kanalzone begannen. Er sei aus dem Wagen gesprungen, erzählte er, habe sich flach auf die Erde
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