Der Gesang der Haut - Roman
allem etwas, sie waren sehr nett, auch sehr zuvorkommend bei dem Kauf der Praxis, und ich hatte das Gefühl, dass sie sich auf uns freuen, dass sie zurzeit jüngere Menschen um sich brauchen, vielleicht möchte Gerlach auch von mir ein paar Nachrichten aus seiner Praxis hören. Es fällt ihm sicher nicht leicht, nun ganz loszulassen.
Schon entfuhr seiner Freundin das erste Seufzen: Ach Viktor, es geht also von vorn los, sagte sie, der im Kopf alle Verpflichtungen spukten, die sich der gute Samariter Viktor im Lauf der Zeit in Frankfurt und Königstein aufgehalst hatte: Gratisnachhilfe für Kommilitonen, die eine Prüfung nach der anderen vermasselten, Stunden bei einer alten, von den eigenen Kindern vernachlässigten Nachbarin, deren Einsamkeit ihm leid tat, sogar Babysitten bei einem befreundeten lebenslustigen Paar, das sein Leben zwanglos genoss. Die knapp bemessene gemeinsame Zeit war gravierend durch solche Hindernisse reduziert worden. Viktor aber schwieg, umarmte sie enger: Lass uns das Beste aus dieser Einladung machen, ich verspreche dir, die Beziehung zu diesen Leuten in Grenzen zu halten, uns keine lästige Pflicht mehr aufzuhalsen. Außerdem sind sie nicht ganz uninteressant.
Nicht ganz uninteressant?
Er erzählte ihr, was er im Schrank gefunden hatte, die detektivischen Nachforschungen über Gerlachs Geliebte. Klara wurde neugierig. Erleichtert erzählte er mehr über das Paar und den Abend bei ihnen. Besser hätte er Frau Gerlachs Behauptung verschwiegen, dass ihr Mann unter Alzheimer leide, während Gerlach dafür seiner Gattin eine geistige Krankheit andichtete, denn Klaras Interesse an der detektivischen Geschichte erlosch: Sie befürchtete wieder, dass Viktor sich mit neuen Opfern belasten könnte.
Er musste bei Gott schwören, er würde jetzt nicht den Gerlach bis zu seinem elenden Ende begleiten und auch nicht seine Frau in der Klapsmühle besuchen. Sie gingen wieder versöhnt nach Hause. Als Klara entspannt in den Betttüchern lag, ihr verschwitztes Gesicht, ihr wirres Haar, ihre wohlriechende Achselhöhlen, ihre nackte Brust vom abendlichen Licht überflutet, zerbrach eine graue Nebelbank über blauen Gipfeln, eine Kohlegrube wurde zum blumigen Urwald, die Zukunft glänzte im ewigen Frühling, und Viktor sprang mit einem Tarzanschrei aus dem Bett. Auch Jane folgte ihm gut gelaunt unter die Dusche. Und Viktor beobachtete, wie sie ihre Wimperntusche auftrug, er hing an jeder Bewegung ihrer Hand, folgte der Linie, die ihr Lippenstift zeichnete, und er hätte auch gern die kleine Grimasse geküsst, die dabei entstand, wenn sie den Mund verzog und straffte. Sie wählte eine eng anliegende Samthose, ein T-Shirt, das die Spitzen ihrer Brüste erraten ließ, und ein verliebter Viktor schmiegte sich an sie und dachte selig: Und gerade mich liebt sie.
(Moira)
J e t’aime, miluji tě, ich liebe dich. Ja, sie liebte dich, du liebtest sie. Auch ihre Selbstliebe war groß. Klaras Problem bestand allerdings nicht in ihrem gesunden Narzissmus; dein Geschmack am Trösten, dein Bedürfnis nach Selbstaufopferung und dein Mangel an kritischem Sinn passten prima dazu, du warst das Blattwerk, Klara die Blume. Ihre Klarsicht aber, die den Spruch »nomen est omen« bestätigte, ließ deine heile Welt erzittern. Gemeinplätze brachten sie zur Weißglut, die bohrte sie kaputt, allein mit dem Presslufthammer ihrer verdammt spitzen Gedanken. Damit ging sie ihren Schwestern und Freunden oft auf die Nerven. Eine Haarspalterin. Zu viel Tamtam um nichts. Sie litt oft. Sie litt unter einem angeborenen Skeptizismus, mal nahe an einem philosophischen Idealismus à la Platon, wenn sie das wahre Leben und die wahre Welt hinter ihrer empirischen Erscheinung sah, mal näher am gewöhnlichen Argwohn eines schnippischen Weibes, das das Fassadelächeln und die tröstenden Klischees des Gutmenschen in Frage stellt. Sie litt unter dem Zwang, Lügen, auch Selbstlügen (am liebsten aber die Selbstlügen der anderen) zu entlarven, an jeder Oberfläche zu kratzen und eine Schicht nach der anderen ans Licht zu bringen, bis sie fand, was sie suchte, oder sich die Nägel abgerissen hatte. Ihre geschmeidige Melancholie befremdete, ihre Fragen verwirrten, ihre Lachanfälle entzückten. Ihre Eltern sagten: ein Quälgeist, eine Nervensäge. Sie und du habt euch vielleicht in dem Wunsch getroffen, unter eurer Sub-Sub-Subkutis die Seele zu finden. Du liebtest auch das Komplizierte in Klara, hattest dich aber dem Lebensziel verschrieben, ihr,
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