Der Gesang der Haut - Roman
euch das Leben einschichtig zu gestalten, was weder ihrer Natur noch ihrer Lebensplanung entsprach. Wenn ich von Lebensplanung rede, meine ich selbstverständlich den Lebensplan, den die Götter für euch bestimmt hatten, keine gekritzelte, zehnfach korrigierte Kladde, nein, das Leben – für Menschen bleibt es in Spiegelschrift doch Nebel –, unwiderruflich, mein zugeschnürter Tarzan, das schon bei der Geburt unter der Haut und in die Haut eingeschrieben ist. Du brauchst nicht zu lachen. Knote lieber deine Schnürsenkel, Junge, bevor du über einen Stein stolperst. Du hast die wilde Machamé Route ausgesucht, längst sind die Blumen und Lianen hinter dir, du läufst irgendwo auf einem sehr steinigen Weg, vor dir, noch zu hoch, siehst du Schneefelder. Mach’s gut, Liebster.
9
S ie standen hinter Gerlachs Haustür und trauten sich nicht zu klingeln. Der Hund hetzte bellend zu ihnen und schnüffelte an Klaras Beinen. Sie hasste Hunde, sabbernde Boxer besonders. Im Haus hörten sie Streit. Durch ein angelehntes Fenster (die Küche?) hörte man die Stimme von Gerlachs Frau, eine sonst filigrane Stimme, jetzt eine Tonlage höher und kräftiger. Daraufhin hustete Gerlach, brummte etwas, stieß dann eine Beschimpfung von wenigen Silben, ach blöde Kuh, oder sogar ach, du Hure oder Nutte, blödes Luder vielleicht, oder du Giftnudel, Fuchtel, hatte Klara gehört, oder doch Tusse? Nur das U und die Wut, die den Raum hinter der Tür füllte, waren herauszuhören. Viktor und Klara blieben versteinert vor dem Eingang stehen und lauschten, unschlüssig, was sie machen sollten. Hatten sie sich verhört? Lief der Fernseher? Waren sie in einen Ehekrach geplatzt und vielleicht gut beraten, umzukehren? Soll ich sie anrufen?, fragte Viktor, sagen, dass du krank bist oder … Lügen haben kurze Beine, sagte Klara und schellte. Dann müssen sie sich eben beruhigen, flüsterte sie. Man hörte keinen Pieps mehr, bis die Tür geöffnet wurde. Der Hund flitzte in die Wohnung. Frau Gerlachs geschminkte Lippen lächelten, ihre Hände rückten aus Spitzenmanschetten hervor, um Viktor die Flasche Burgunder abzunehmen, ihre Augen schielten dabei auf Klara und sie sagte mit falsch gespielter Fröhlichkeit, was für eine süße Freundin Sie da haben, Doktor Weber. Sie wechselte die Tonlage und rief schnell, wie eine Schauspielerin, die in ihrem Part einen Satz vergessen hat: Willkommen, willkommen zusammen! Gert, kommst du? Unsere Gäste sind da. Eine Minute, schrie Gerlach von Weitem. Klara hatte beide Füße – Schuhgröße fünfunddreißig – in ein Quadrat der großen weißen Fliesen gesetzt und bewegte sich nicht mehr, als sei es verboten, die Linie zu überschreiten. Sie hörte, wie Viktor ein paar höfliche Floskeln mit Frau Gerlach austauschte.
Gerlach watschelte heran, in einer blauen Küchenschürze eingeschnürt. Er trocknete sich die Hände daran ab, bevor er sie seinen Gästen zustreckte. Ich habe Inkognito im Keller eingesperrt. Sie sind also der Koch, Doktor Gerlach?, fragte Viktor fröhlich. Ich bin der Gert, sagte dieser, hast du das schon vergessen? Ein geplatztes Äderchen hatte sein linkes Auge gerötet. Blutdruck, Thrombose, Alkoholismus, Kaktusstich, Vampir, Schlag aufs Auge, wer prügelt hier wen?, fragte sich Klara. Und Gerlach, als hätte er ihre Gedanken gelesen, zeigte auf sein Auge: Sonnenuntergang. Und es schien Klara, dass er ihr listig zublinzelte. Ja, ich koche, sagte er weiter zu Viktor, wenn meine Frau mich lässt. Sie meint, ich salze zu viel. Zu viel Salz ist nicht gut für deinen Blutdruck, verteidigte sich Frau Gerlach, oder? Sie schaute Viktor an, als wäre er der einzige Arzt im Raum. Na, grinste ihr Mann, jetzt spielt Frau Gerlach die Rolle der unsicheren Gattin, ich reiche ihr nicht aus. Sie zieht sich jede Woche drei bis vier Arztserien im Fernsehen rein. Ach, beeilte sich Klara, von der Sonnenuntergang-Replik noch belustigt, Sie auch? Ich liebe diese Doktorserien, ich versuche, keine zu verpassen. Sie trat jetzt aus dem Quadrat und ignorierte den schockierten Blick von Viktor. Lügen haben kurze Beine, blies er ihr in den Nacken, als er ihr aus dem Mantel half. Dann haben wir zwei Doofis, trompetete Gerlach und schaute Klara verschmitzt an. Als er wieder in die Küche zurückkehrte, hatten Klara und Viktor Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Verzeihen Sie, murmelte Frau Gerlach und wischte sich die Stirn mit bebender Hand. Sie wissen ja, die Krankheit. Er hat so aggressive Phasen, es passiert,
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