Der Gesang der Haut - Roman
es kommt, es geht, es ist sicher gleich vorbei. Frau Gerlach, versuchte Viktor, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, unser Besuch stresst ihn vielleicht mehr, als er ihm hilft. Sollten wir nicht lieber gehen? Aber Frau Gerlach wandte sich jetzt an Klara und flehte sie an: Bleiben Sie, Fräulein Klara, bitte, bleiben Sie. Er hat sich wirklich auf Ihren Besuch gefreut, er wird bestimmt mir die Schuld geben, wenn Sie jetzt gehen. Klara, die das Fräulein Klara lustig fand, lächelte charmant: Viktor, ich glaube, Frau Gerlach hat recht. Doktor Gerlach hat nur gescherzt.
Klara hatte die betörend melodische Stimme einer Zauberin. Sie spielt die kleine Artistin auf dem Elefanten, dachte Viktor und schämte sich sofort seines Spottes. Anscheinend war Gerlachs Aggressivität ansteckend.
Sie gingen dicht hintereinander ins Ess-Wohnzimmer. Die dunklen Tapeten und die Vorhänge aus schwerem spinatgrünem Stoff verkörperten alles, was Klara an Möblierung hasste, sie entsprachen aber so sehr ihren Prognosen, dass sie sich vor lauter Selbstbestätigung noch besser fühlte. Ein Fotoalbum lag offen auf dem Tisch: Klara warf ein Auge auf eine junge Frau und ein Kind am Tisch, das Licht des Blitzes war von der Netzhaut ins Objektiv reflektiert worden und beide Personen schauten mit roten Augen in die Kamera. Ihre Tochter und ihre Enkelin?, fragte sie. Ja, unsere Tochter Nora mit dem Kind. Wir blättern oft in diesem Album, damit mein Mann nicht so schnell die Seinen vergisst. Ihr Freund hat Ihnen bestimmt von der Krankheit meines Mannes erzählt …
Man merkt ihm noch nichts an, sagte Klara. Und er kann also noch kochen?
Der Sauerbraten ist längst fertig, er brodelt nur noch ein bisschen, mein Mann macht das Apfelmus. Wenn nur diese Aggressivität nicht wäre und die Gedächtnislücken. Die beschweren allerdings den Alltag noch nicht sehr. Mein Mann spielt immer noch Golf, und sehr gut.
Wie schön, sagte Klara.
Hast du unseren Gästen schon einen Aperitif angeboten?
Gert Gerlach war im Zimmer erschienen.
Ich bin dabei. Mondän lächelte Henrietta, als sie Klara ein Glas Portwein einschenkte und nach ihrer Arbeit fragte. Ich unterrichte Philosophie und Musik in einer Privatschule, erklärte Klara. Und Viktor mischte sich ein: Klara ist eigentlich Musikerin. Sie spielt Klavier und singt sehr schön. Sogleich bereute er sein Eingreifen, denn Gerlach und seine Frau gerieten in Begeisterung und drängten Klara, ihnen etwas vorzuspielen, ein Lied vielleicht? Ihr Enthusiasmus klang, als hätten sie die Lösung all ihrer Probleme gefunden. Wie ein Kind bettelte Gerlach mit gefalteten Händen und spitzem Mund, bitte bitte bitte bitte, singen Sie uns doch etwas, liebe Klara, und Frau Gerlach, die gerade Viktor ein Bier eingegossen hatte und eine Schale Erdnüsse reichte, zeigte auf den Flügel in der Ecke des Zimmers: Ich habe ihn vor drei Wochen stimmen lassen, als hätte ich gespürt, dass bald musikalischer Besuch käme. Seit unsere Tochter weg ist, spielt niemand mehr darauf, jammerschade. Klara stand auf. Sie hat sich entschlossen, ihre Courage zu zeigen, dachte Viktor, der sich wieder wunderte, dass er spöttisch wurde. Ach, er hätte so gern den Abend allein mit ihr verbracht!
Freundlich fragte Klara ihre Gastgeber nach ihren Wünschen, ein altes französisches Chanson vielleicht? Den Text beherrsche sie momentan nicht so gut, nur so lala. Ja, schrien beide im Chor, ein altes französisches Chanson wäre perfekt, genau, was man heutzutage braucht, sagte Gerlach, wer braucht denn so dringend alte französische Chansons?, fragte sich Viktor, der verblüfft zusah, wie Doktor Gerlach eine Handvoll Erdnüsse nach der nächsten nahm und schmatzend zermalmte. Langsam setzte sich Klara auf den Klavierstuhl, lächelte ihr Publikum an und sang, nachdem sie die Tasten kurz getestet hatte, Plaisir d’amour. Die Melancholie der Melodie, die Sinnlichkeit der warmen Mezzostimme erfüllte das Zimmer als etwas Erstaunliches, Fremdes und Bezauberndes. Viktor beobachtete die Veränderung in Gerlachs Gesicht. Seine Wangen hatten einen rosigen Teint, als glömme in ihm eine kleine Kerze. Er lauschte wie entrückt. Henrietta Gerlach schaute ihren Mann mit feuchten Augen an, ihre Lippen bebten leicht. Viktor löste seinen Krawattenknoten und spürte beim Schlucken das Auf und Ab seines Adamsapfels. Er hatte oft seiner Freundin zugehört, an diesem Abend aber klang ihre Stimme anders, nostalgisch und tröstlich zugleich. Jene drohende Schwere
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