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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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Mal mit anderen Augen, und sie spürte es, als sie sich beide mit halb geöffnetem Mund ansahen.
    Und mein Nierenbraten ist unter unseren Bekannten sehr geschätzt, fügte sie im leichteren Ton hinzu.
    Unter Blinden ist der Einäugige König. Die können alle nicht kochen.
    Was meinen Sie mit nackt, nackt, nackt?, fragte Viktor.
    Hör doch nicht auf so einen Mumpitz, lachte Gerlach, ich weiß schon lange nicht mehr, wie meine Frau ohne Hüllen aussieht. Ich kann dir sagen, warum die Ehe unerträglich ist.
    Ich höre.
    Weil sie uns mit einem doppelten Verfall konfrontiert. Als wäre der eigene Untergang nicht schlimm genug, muss meine bessere Hälfte verfaulen. Was bleibt mir noch übrig? Ich verschwinde mal.
    In der ersten Zeit der Liebe, sagte Henrietta, als ihr Mann sich entfernt hatte, sieht man nur das Schönste in dem anderen, man schwimmt an der Oberfläche und auf dem Rücken, damit man nur in den Himmel sieht, man wird zum erleuchteten Engel, und sogar der derbste Sex trägt einen in den siebten Himmel, irgendwann aber …
    Wo ist der Aschenbecher?, fragte Gerlach, der zurückkam.
    Neben deinem Sessel. Willst du nicht erst nach dem Nachtisch rauchen? Ja, und dann, Viktor, ist die Zeit der Wahrheit gekommen.
    Halleluja, stimmte Gerlach ein. Jeder Arzt weiß es, die Wahrheit heißt Krebs. Und ist am späten Abend bei jedem fällig. Was du uns erzählst, ist nicht gerade neu, meine arme Henrietta, merke dir aber, Weber, dass meine Frau immerhin ihre Plattitüden in schöne Worte einwickeln kann, dabei hat sie mit knapp »Ausreichend« ihr Abi bekommen. Viel weiter kam sie nicht, wir haben früh geheiratet.
    Frau Gerlach schüttelte den Kopf: Ein Fehler, den du dir endlich verzeihen solltest.
    Oh! Eine gute Replik!, erwiderte Gerlach.
    Oh! Ein Kompliment meines Mannes! Gert, hör mit deiner Gehässigkeit auf, du wirst dem armen Viktor die Ehe definitiv vergällen.
    Du hast damit angefangen! Ich gebe dir einen Ratschlag, lieber Weber: Sieze von Anfang an deine Lebenspartnerin, nehmt getrennte Schlafzimmer, damit es nicht so muffelig riecht, und genehmigt euch gegenseitig nur knapp bemessene Gesprächseinheiten pro Tag, am besten über das Wetter und weitere Nierenbraten.
    Viktor braucht deine Ratschläge nicht und wird es besser machen als du, Rohling. Ich hole jetzt den Nachtisch. Es gibt Eis mit Schlagsahne.
    Das passt zu dir, schlussfolgerte Gerlach, hinter ihrem Rücken. Absolut einfallslos.
    Alle aßen schweigend ihr Eis. Viktor saß dem Fenster gegenüber, das hinter Henrietta schwarz in den Garten schaute.
    Bald darauf fuhr er nach Hause.
    Vom Wohnzimmerfenster aus blickte Henrietta den sich entfernenden Heckleuchten von Viktors Wagen nach. Sie schloss die Holzläden und öffnete ein Buch. Im runden Kreis des Lampenlichts, auch von einem Roman beschirmt, wäre sie gern zur Ruhe gekommen, aber sie schaute nur verstört auf die Seite, stieß auf Wörter, die sich auflösten, die Sätze zerfielen, die Zusammenhänge verschwammen, sie entzifferte vier Silben, Pappelsamen, sprach das Wort, kaute daran, wo lag die Bedeutung, was sollten diese Pappelsamen hier, und das Wort verästelte sich, alles Pappenstiel dachte sie, alles Pappenstiel, und im Wind verwehte Samen lösten sich aus den Seiten, die Seiten bedeckten sich mit gelbem Pulver, die Zeilen wurden immer unlesbarer, papperlapapp, sagte Gert, was du schwätzt, was du denkst, papperlapapp, sie glaubte ihren Mann zu hören, ihren Mann, der ins Bett gegangen war, ihren Mann, der schon wieder auf den Namen Ludo Fischer nicht reagiert hatte, als sie ihm von einem weiteren Anruf erzählt hatte, ihren Mann, der sie längst nicht mehr liebte. Das Buch fiel auf den Boden. Sie rieb sich den Kopf mit beiden Händen, hatte wieder Kopfschmerzen, Tränen in den Augen, und sie versuchte, sich wegzuträumen. Zwanzig, sie war wieder zwanzig, stand mit einer chinesischen Vase vor der angelehnten Wohnzimmertür ihrer zukünftigen Schwiegereltern, streckte einen Fuß nach vorn, um diese Tür aufzustoßen, und blieb eine Ewigkeit des Glückes auf einem Fuß stehen.

(Moira)
    L ass mich in diese kurze Ewigkeit eindringen.
    Anders als ihre Schulfreundinnen fragte Henrietta sich nie, was Liebe ist. Diese Haarspalterei war ihr piepegal, dafür konnte das reizlose Mädchen sicher abstecken, was ein Leben ohne Liebe war, eine Kathedrale ohne bunte Kirchenfenster, ohne Beichtstuhl, ohne sakrale Bilder, ohne Weihrauchgeruch, ohne Orgel, ohne Altar. Ein labyrinthischer Bunker. Mit

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