Der Gesang der Haut - Roman
Ihrer Patienten nicht verkraftet?
Ihr Tod ging mir unter die Haut, vor allem am Ende des Winters war es besonders schrecklich, wenn jemand starb. Sie wollten noch einen Frühling erleben. Sie sagten es so: Ich will die Narzissen blühen sehen, die ich im Oktober gepflanzt habe, oder ich will es mindestens bis Juni schaffen. Ich habe blühende Wildkirschenzweige auf dem Weg zum Krankenhaus abgeschnitten oder Veilchen am Straßenrand gepflückt oder eine Tulpe, eine Osterglocke in einem Vorgarten gestohlen. Aber wenn die Blüten im Zimmer ankamen, waren sie futsch, sie blühten zwar noch, aber auch sie hatten angefangen zu verwesen, ich konnte meinen Sterbenden nur einen toten Frühling schenken. Der Frühling war ihr Vorwand, um im Leben zu verweilen …
Moira schwieg, und da Viktor nur ergriffen schaute:
… eine spanische Wand aus Blüten, verstehst du, und der Tod hielt manchmal auch barmherzig davor. Du findest mich sentimental und kitschig, ja, ich sehe es in deinen Augen.
Ich mache mich gar nicht lustig. Im Gegenteil.
Viktor fühlte in der Tat eine neue Nähe zu Moira, auch er hatte in seinem Klinikalltag Leute sterben sehen, und sein Ohnmachtsgefühl war sicher auch ein Grund gewesen, das Krankenhaus zu verlassen und jetzt eine Praxis zu eröffnen.
Was ich nicht sehe, macht mich nicht blind, murmelte Moira.
Was meinen Sie damit?
Ich wollte nicht abstumpfen, die Leichen hätten mich blind für die Schmerzen der Menschen gemacht. Ich hielt den Sterbenden die Hand, wenn keine Verwandten kamen, nahm ich Platz an ihren Betten und sprach und betete und wartete, bis sie starben. Und bald habe ich den Eindruck gewonnen, sie starben extra, während ich da war, also weil ich da war, und dann musste ich weg, bevor ich begann, mit der Todessichel herumzulaufen.
Hm. Jetzt drehen Sie Filme.
Noch lange nicht, ich lerne zurzeit zu filmen und Drehbücher zu schreiben, da ich aber Giselas Haus verlassen will, bräuchte ich einen Mann, der mich aushält, bis ich Erfolg habe. Kennst du einen?
Nein, aber ich werde mich umschauen, lachte Viktor. Nun, ein reicher Mann ohne goldenen Käfig ist eine »perle rare«. Haben Sie Sehnsucht nach Ihrem Land?
Meine Sehnsucht hält sich in Grenzen. Ich fliege ab und zu hin. Außerdem kenne ich hier andere Afrikaner, die nicht so privilegiert sind wie ich.
Was für welche?
Auch Illegale. Afrika ist ein zertrampeltes Schlachtfeld. Dort stinkt es nach geronnenem Blut. Ich selbst bin eine Luxusstudentin, empfinde ab und zu eine zerstörerische Wut. Gegen die Scheißkannibalen in den Regierungen dort und auch gegen eure Arroganz.
Bin ich vielleicht arrogant?
Du nicht, vielleicht nicht, ich glaube nicht. Das wird sich zeigen. Ich habe es auch anders erlebt. Schauen die Dänen auf die deutschen Ärzte herab, die emigrieren, weil sie dort tausend Euro mehr verdienen?
Wollen wir über Politik reden?
Als Mensch zwischen zwei Kulturen fällt man irgendwann in ein Loch der Unkultur. In einen Abort. Alle können sich nicht hochrappeln. Ich selbst brauche ein imaginäres Land, nicht Afrika, kein Land in Afrika, kein reales Land, Afrika macht mir Angst, wenn ich aber an Europa denke, muss ich gähnen, ich will mir mein Land selbst erschaffen. Deshalb möchte ich filmen.
Worüber möchten Sie gern Filme drehen?, fragte Viktor schnell.
Kannst du nicht aufhören mich zu siezen? Das Du verpflichtet dich doch nicht zur Ehe. Früher mochte ich das Sie lieber, weil es leichter zu konjugieren ist, so habe ich sogar die Kinder gesiezt. Das Du ist mir näher.
Näher woran, an wem?
Näher an Ihrer Haut, Herr Dermatologe.
Eben, sagte Viktor.
Keine Panik, Herr Doktor, ich suche in Ihnen nur den großen Bruder.
Ach wirklich?
Wirklich. Aber man sucht oft etwas und findet etwas ganz Anderes.
Sie lachten beide.
Hm. Also erzähl von deinem imaginären Land.
Mein neues Land ist eine deutsche Kolonie. Ich habe eine Kolonie der deutschen Sätze gegründet. Ich peitsche sie durch den Tag, bis sie in mein Buch passen, ich pfeife sie heran, lasse sie ausschwärmen, foltere sie zurecht, ich lösche sie aus, wenn sie brennen, anstatt zu wärmen, ich bearbeite sie, mein Herr, und sie arbeiten für mich.
Schreibst du Drehbücher oder Romane?
Drehromane. In jedem Satz ein Filmbild.
Da dreht sich einem der Kopf. Gibst du sie mir zu lesen?
Wenn du groß bist.
Ach.
Groß in meinem Herzen.
Ah.
Viktor lächelte, er hatte schon lang nicht so viel Gefallen gefunden an einem Austausch mit einem Mensch dieser
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