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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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zurück: Lieber Filmbesucher, ich will dich nicht beleidigen, aber auch das Pferd mit seinen Scheuklappen hat eine realistische Sicht auf die Landschaft. Das Problem besteht in den vielen Kästchen, die man dir, gebildeter Mensch, eingepflanzt hat, als du Goethe und Voltaire gelesen hast. Eines davon trägt sogar die Etikette: Kluge Wilde/unaufgeklärter Europäer – Und hups! Schon hast du eine Geschichte entdeckt, die du da reinschieben kannst.
    Ach Viktor, ich hab noch ein Problem, das mich daran hindern könnte, den Film zu realisieren. Vielleicht hätte ich selbst nur als Zuschauerin, als Beobachterin fungieren, als griechischer Chor auftreten müssen, der dein und Gerlachs Unglück in Versen beklagt, oder als personifiziertes Schicksal, aber als ich in deine Praxis kam, dich sah und deine Hände auf meinem Rücken spürte, wusste ich, dass ich vor allem eine Frau bin, die sich über beide Augen verliebt hat (ja, ich meine die Augen, nicht die Ohren) und sich ihrer Haut nicht mehr erwehren konnte. Ich war so blind wie mein eigenes Schicksal. Gut so.

16
    E in hellgrüner Schleier wehte durch den Wald. In den Vorgärten explodierte die Farbe Gelb. Die Spaziergänger suchten Blickkontakt. Viktors Schritt hatte sich verlangsamt, die Natur sträubte sich gegen das routinierte Joggen, man musste stehen bleiben, um sich schauen, so schön war das Festspiel Frühjahr. In Viktors Kopf piepsten Gedanken in verschiedenen Tonarten. Er hatte sich mit einer Halbwahrheit bei Doktor Hettsche telefonisch entschuldigt: Es würde ihm leidtun, aber es wäre unerwarteter Besuch gekommen und er habe den Termin völlig verschwitzt. Doktor Hettsche schlug vor, sich am nächsten Mittwoch zu treffen. Aus seiner Stimme war nicht herauszuhören, ob er böse oder eher amüsiert war.
    Viktor hatte eine Woche lang Rücken, Gesäße, Handballen, Hälse, Beine, Füße angeschaut und angefasst, gewissenhaft schwitzende Falten, Augenlider, Kopfhaut, Mundwinkel, Achselhöhlen, Schleimhäute, Enddärme und Genitalien untersucht, Pickel, Bläschen, Flecken, Muttermale und Schuppenflechten unter die Lupe genommen, einen Lippenherpes, einige Hämorrhoiden, täglich Akne, mehrfach Haselnuss- und Birkenpollenallergien, Faulecken, eine Candidose, eine Gürtelrose, zwei Furunkel, einen Lidtumor, einen nicht pigmentierten Hautkrebs und eine Genitalwarze diagnostiziert, er hatte verschiedene pflegende Salben, Kompressen, Antibiotika, Kortisonpräparate und andere Tabletten verschrieben, zwei Patienten zum Chirurgen und die meisten getrost nach Hause geschickt, er hatte einmal Handball gespielt und täglich einen ruhigen Waldlauf absolviert, viermal beim Jugoslawen zu Mittag gegessen, fünfmal mit Klara telefoniert, einmal mit seinen Eltern und stündlich an Moira gedacht, als er am nächsten Mittwoch einen neuen Anruf von Doktor Gerlach erhielt.
    Junger Mann, sagte dieser, ich verschiebe es seit Monaten, aber was sein muss, muss sein. Wir sind so weit.
    Sie sind so weit?, wiederholte Viktor.
    Wir machen ein Fest. Ich will das Wort Ruhestand Lügen strafen und wild feiern. Du bekommst eine schriftliche Einladung. Und glaube mir, du wirst nicht wenig überrascht sein. Es ist noch viel Zeit. Notier dir aber schon Samstag, den 27. Mai.
    Ich weiß nicht, ob ich da sein werde. Ich wollte wieder ein Wochenende in Frankfurt verbringen.
    Frankfurt bleibt dir auch am Wochenende davor oder danach erhalten. Du bekommst die Einladung, und dann kannst du neue Pläne schmieden.
    Gut.
    Am nächsten Tag fand Viktor bereits die Einladungskarte der Gerlachs in seinem Briefkasten. Eine elegante Karte: Herr Doktor Gert Gerlach feierte seine Pensionierung zu Hause. Er lud zu einem Büfett und einem Hauskonzert mit zwei Frankfurter Musikern, »die uns die Ehre geben«, und so weiter. Es wurde Viktor schwarz vor Augen und er musste den Namen von Klara mehrmals lesen. Den Namen des Pianisten kannte er nicht. Viktor lief im Zimmer auf und ab, warf immer wieder einen Blick auf die Karte und entschied, sich im Wald abzureagieren. Es gelang ihm, acht Kilometer zu joggen ohne Pause, er sah dabei weder die Frühlingspracht (sogar die Eichen trieben jetzt saftige Sprossen) noch die anderen Jogger und Spaziergänger, schwitzte, keuchte zu schwer, um auf das Zwitschern der Vögel zu achten, er lief, rannte, eine Wut im Bauch trieb ihn weiter, eine Wut, die sich nicht ausschwitzen ließ, er flitzte, es war die Flucht nach vorn des hinterrücks Getroffenen. Er brach auf einer Bank zusammen,

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