Der Gesang der Haut - Roman
Bekümmernissen anderer zu überdecken, Gerlach auch mit anderen Augen zu sehen. Wie würde Klara reagieren, die den Alten so sympathisch fand, dessen Verehrung sie so genoss, ach, wer weiß, ob sie ihn nicht noch mehr mögen würde, sogar für diese Fälschung bewundern, das passte gut zu ihr. Allerdings würde sie sein Verhalten der ausgebeuteten Carolin Leitner gegenüber nicht so gutheißen. Sollte sie aber Gerlachs Schandtat selbst weiterplaudern … Es wäre aber amüsant, diesen Klatsch mit ihr zu teilen. Wie sie sich beide vor Lachen kugeln würden, ach, Gerlach ein Fälscher, Gerlach kein echter Arzt, aber doch ein hervorragender falscher Arzt!
Henrietta Gerlach hatte das Gesicht zum Fenster gewandt.
Sie behalten es für sich, nicht wahr?
Selbstverständlich!
Ihr männliches Profil, die bebenden Lippen, die fahle Haut, das schlaffe Kinn, ihr zerknitterter Hals. Viktor sah auf einmal Klara in Gerlachs Bett, ihren straffen Körper mit dem Muttermal unter der linken Brust, mit der Scham, die sie bis auf einen schmalen Streifen rasierte, die rosa Innenschenkel, einen Teil von Klaras Körper, der ihn sehr berührte, weil die Haut da etwas rauer, an der Seite empfindlicher war als vorn, ihre Nacktheit schien an dieser Stelle ihren höchsten Punkt zu erreichen, er sah, wie Hände (Gerlachs Hände) diese Schenkel umfassten, wie er mit geschickter Drehung Klaras Körper zwang, sich auf den Bauch zu legen, wie er die linke Hand unter ihre Scham gleiten ließ und damit ihr Gesäß und ihre Schenkel leicht hob, wie er den Kopf in das Dreieck einschob und die Innenseite der Schenkel leckte, er sah ihn, und sah sich an der Tür, wie er die Arme über der Brust kreuzte und zu Gerlach sagte: Ich weiß, was du mit dreiundzwanzig Jahren getan hast.
Viktor stand mit weichen Knien auf und ging wieder ans Fenster.
Ach, kommen Sie mir nicht wieder mit der Liebe, zischte Frau Gerlach hinter seinem Rücken.
Aber, stotterte Viktor, der sich nicht mehr erinnerte, von Liebe gesprochen zu haben.
Ich weiß nicht, ob ich meinen Mann noch liebe. Ja, ich liebe ihn, nein ich liebe ihn nicht, ich kann seit einer Ewigkeit nicht mehr sagen, was dieses Wort bedeutet. Sehen Sie das so: Ich gehöre zu ihm. Auch ich würde diese Schande nicht überleben. Von mir aus können Sie das auch Liebe nennen oder die Stärke der Gewohnheit oder Leibeigenschaft oder Sklaverei oder Zusammengewachsensein oder gegenseitige Schmarotzerei, man hat so sehr voneinander gelebt, ja, und warum nicht Solidarität? Oder ein »Mitgehangen-Mitgefangen«. Viktor, der Gedanke seines Sturzes lässt mich aufschreien. Es würde ihn umbringen, ich kann das nicht ertragen.
Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und presste sie gegen ihren Mund. Viktor sah, dass ein bisschen Spucke an ihrem Ehering glänzte.
Er räusperte sich: Wieso ist Fischer erst jetzt zu Ihnen gekommen?
Carolin Leitner ist vor einigen Monaten an Krebs gestorben. Erst nach ihrem Tod hat Ludo Fischer Papiere oder ein Tagebuch gefunden. Stellen Sie sich das vor: Fischer und die Leitner hatten sich schließlich angefreundet, sind ein Paar geworden, haben sogar geheiratet. Jahre nach der Trennung wiegte sich Gert längst in Sicherheit. Wir haben gedacht, dass sie ihre Drohung nie wahr machen würde. In der Tat hat die Leitner meinen Mann wirklich sehr geliebt. Sie wollte sein Leben und seine Karriere doch nicht verpfuschen. Dass Ludo Fischer sich für sie interessierte, hatte vielleicht ihren Groll auch besänftigt. Sie war glücklicher. Dem Fischer hat sie aber mit Recht nicht vertraut, sie hat ihm die Fälschung vermutlich verheimlicht.
Es entstand wieder ein Schweigen, in dem Henrietta Gerlach mit leerem Blick vor sich hin guckte und Viktor die Fragen, die sich bei ihm tummelten, zu ordnen versuchte.
Frau Gerlach, was erwarten Sie von mir?
Sie sagten es eben, ich wollte dem Erpresser Fischer zuvorkommen. Ich wollte, dass Sie es aus meinem Mund erfahren. Dass Sie mir helfen. Ach, ich konnte nicht mehr damit allein bleiben.
Wussten Sie es bereits?
Was denn?
Wussten Sie vor der Carolin-Episode, dass Ihr Mann sein Physikum gefälscht hat?
Nein, er hat mir dann erst alles gestanden.
Also so lange hat er Sie angelogen und betrogen.
Was wollen Sie damit sagen?
Nichts.
Ja. Auch damit hat er mich betrogen. Das Leben dieses Mannes besteht aus vielen dunklen und hellen Tasten. Aber er hat Carolin Leitner nicht nachgegeben, er hat mich nicht verlassen.
Sie stand auf und begann hin und her zu
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