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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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sich selbst und anderen und interessierte sich so wenig für Männer, dass manche Kolleginnen sie für lesbisch hielten. Sie hatte eine gewisse spröde Schönheit, die nicht unmittelbar erkennbar war, regelmäßige Züge, sie versuchte gar nicht, attraktiv zu sein. Als sie Gert Gerlach zum ersten Mal traf, stand sie unbeholfen vor ihm, sie freute sich, dass sie ausnahmsweise etwas Neues und Hübsches trug, einen kurzen schwarzen Rock, der ihre langen Beine zur Geltung brachte, und einen anschmiegsamen Kaschmirpulli. Sie, die Unerfahrene, wusste sofort, dass sie ihn wollte, er aber bemerkte sie nicht einmal. Im Bad traf sie auf eine junge Frau, die sich schminkte. Ach, ich habe meinen Lippenstift vergessen, dürfte ich deinen benützen?, fragte Henrietta, die ihre eigene Unverschämtheit erröten ließ. Das Mädchen reichte ihn ihr zögernd, ein bisschen schockiert vielleicht, traute sich aber nicht, Nein zu sagen. (Sie würde anschließend aus Angst vor Herpes und anderen Krankheiten den Lippenstift wegwerfen.) Henrietta bemalte sich die Lippen, was sie praktisch nie machte. Sie befreite auch ihr brünettes Haar aus der Pferdeschwanzspange und kämmte es vor dem fragenden Blick der Unbekannten mit nassen Fingern, schüttelte den Kopf, um es wild aussehen zu lassen. Ich benütze Tricks, dachte sie, ich will einen Mann angeln, welche Schande, ich benehme mich wie ein Flittchen. Das Wort hatte ihr gut gefallen. Wie ein Flittchen. Sie, die ihre Ausbildung in einer Bank erfolgreich zu Ende gebracht hatte, einen soliden Ruf genoss. Wie ein Flittchen. Gert stand am Büffet und sie ging mit einem Glas zu ihm, fragte, ob er ein Freund von Mario (dem Gastgeber) oder von seiner Freundin sei. Sie trank nicht, um ihren Lippenstift nicht wegzuwischen, entfernte sich aber wieder, als er nur einsilbig reagierte, stellte sich mit ihrem Glas allein in eine Ecke und suchte hartnäckig den ganzen Abend Blickkontakt mit ihm, bis er es endlich merkte und sie mit einem leicht spöttischen Lächeln zum Tanzen aufforderte. Der gewiefte Don Juan spürte schnell ihre Ergebenheit, sah, wie ihre Wangen erröteten, wie ihr Körper immer biegsamer und wärmer wurde, ihre Augen ausdruckslos oder gesenkt: Ich schwitze, ich schmelze, ich benehme mich schlecht, er weiß, was durch ihn in mir passiert. Er beugte sich über ihre geschminkten Lippen, sie spürte eine kraulende Hand unter dem Pulli, die sie auf und ab streichelte, seine Stimme (er brabbelte irgendetwas über die Musik, sie vertraute ihm an, sie spiele Akkordeon, eigentlich Bandoneon) und diese schmeichelnden Finger, die immer tiefer sanken, ließen sie erschaudern. Sie schnappten Luft auf dem Balkon, sie gingen auf den Flur, sie gingen ins Treppenhaus, sie gingen in irgendein Schlafzimmer, er sagte, wollen wir, sie sagte, ja wir wollen, sie nahm alles sehr bewusst wahr, was sie taten, als ihr Höschen auf den Boden fiel und sie darauf stieg, wurde sie so schwach, dass sie fürchtete, in Ohnmacht zu fallen, aber nein, sie fiel nicht in Ohnmacht und erlebte (sie sagte es sich: Ja, ich erlebe es), dass er ihr den Rock hochschob, es erfüllte sie mit Angst und Lust, dass er sie nur halb nackt nahm, gierig und ohne jede Vorsichtsmaßnahme, sie küsste ihn bis zum Atemverlust, sie verwischte mit dem geliehenen Lippenstift eine brave und langweilige Jugend, und zum ersten Mal in ihrem Leben zerschmolz ihr ungeliebtes Ich zu einem lustvollen Du, herrlich, so also fühlte sich Liebe an, hart und verrückt, die ganzen Vergleiche, das mit dem Feuerfangen, das war alles wahr, der Bauch brannte, das ganze Gesicht brannte von dem dreitägigen Bart, man klebte aneinander, man fügte sich ineinander, um etwas Drittes zu erzeugen, nein kein Kind, bitte noch kein Kind, aber wenn schon, ist es mir egal, ein neuer Körper wächst, ein lebendiges Wesen, das zu ihren beiden Wesen gehörte, das aus ihrem Geschlecht erwuchs und sich vor Glück spreizte, er beugte sie über das Bett, er drang in sie ein und wunderte sich nicht wenig: Sie schrie vor Schmerz.
    Henrietta musste zugeben, das Kleid war schön, Schnitt und Farben schmeichelten ihr. Sie würde dieses Mal den Kauf sicher nicht bereuen. Sie schaute auf das Preisetikett und ihr Herz hüpfte schneller bei dem Gedanken an Fischers Erpressung, sie beschloss, sofort dagegen anzugehen: Ja, ich nehme das Kleid.
    Auf Wiedersehen Henrietta. Viktors Stimme begleitete sie wieder. Wie naiv und doch liebenswürdig dieser junge Mann war, wie gut er zuhören konnte. Sie

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