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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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gegangen, später nach Montpellier in Frankreich und dann ist er nach Hamburg zurückgekommen, wo er seine Doktorarbeit geschrieben hat, bevor er sich in Köln niederließ. Ich dachte, sie habe ihn verlassen und dass er deshalb ins Ausland hatte wollen. Sie wissen, Viktor, dass eine erste große Liebe oder das, was man für eine große Liebe hält, einen für das Leben prägt? Sie wissen das?
    Der dringende Ton von Frau Gerlach zwang Viktor, sie jetzt wieder anzusehen. Ihr Blick glänzte, er fürchtete, sie würde in Tränen ausbrechen und er müsse sie dann in die Arme nehmen und trösten, ihr fettiges Haar streicheln, ihren Atem an seinem Hals spüren. Er konnte sich gut an die Fotos in der grauen Mappe entsinnen, sah Carolin Leitner, die Frau, die »eine Spur zu schrill« an Gerlachs Arm lachte. Er lief zum Fenster, beneidete einen Jungen, der auf dem Bürgersteig rennend eine Dose kickte. Nur noch einmal zehn Jahre alt sein.
    Sie denken, sagte Henrietta, diese Frau Gerlach, zu viel Pathos, Sie finden mich lächerlich.
    Er spürte ihren Blick in seinem Rücken, dass sie jetzt beobachtete, wie er sich an den Nacken fasste und den Kopf nach hinten warf. Er hörte, wie sie an einem Stück Salzstange kaute und schluckte, und drehte sich wieder zu ihr.
    Ach was, ich verstehe, was für ein Schock diese Offenbarungen für Sie gewesen sein müssen. Das ist aber lange her. Was will dieser Detektiv jetzt von Ihnen und warum ist er zu mir gekommen?
    Sie zupfte einen Fetzten Haut von ihrem linken Ringfinger, bevor sie weitererzählte.

(Moira)
    » W as findest du an diesem Mädchen?, fragte Gerts Mutter. Etwas, was du nicht sehen kannst, Mutter, weil du es nicht besitzt.« Henrietta war damals bei Gerts Mutter das Geschenk einer idealen Identität gemacht worden. Sie wuchs zu einer Frau heran, deren hervorragende Eigenschaften man nicht einmal benennen konnte oder durfte, so unfähig war die oberflächliche Mutter, das Besondere in der jungen Henrietta zu sehen, geschweige denn, es anzuerkennen. Gert bezeichnete seine Freundin nicht als ein solides, loyales, ungekünsteltes, liebevolles Mädchen, was nur banal, nur enttäuschend gewesen wäre, nein, ihr Wert verweigerte sich jeder sprachlichen Abbildung, dieses etwas blieb undefiniert und verlieh Henrietta eine Aura, die keine andere besitzen konnte. Aus dieser Negation, »was du nicht sehen kannst, Mutter« schöpfte sie ihre Selbstachtung und eine Art sakrale Bedeutung im Leben ihres Mannes. Und dann, weil ihr Mann ernsthaft liiert war, wurde ihr Anspruch plötzlich für nichtig erklärt. Nach so vielen Jahren der Geduld hatte sie ihr Selbstvertrauen auf einmal verloren und einen Detektiv beauftragt. Sie hatte das Wesentliche verloren: ihr Selbstwertgefühl. Und es kam schlimmer. Im Laufe der Jahre nistete sich diese Gewissheit unausrottbar in Henriettas Gehirn ein: Ihr Lebensgefühl war eine geplatzte Luftblase. Ihre Ehe ein einziges Missverständnis. Die Liebeserklärung von damals war nur eine Provokation gegenüber einer Mutter, die Gert sehr gern verspottete, gewesen. Sie selbst, Henrietta, war ein Mittel zum Zweck, ein Instrument, ein Nichts. Sie war nie geliebt worden und würde einsam sterben. Inzwischen, Viktor, wissen wir es besser: Im letzten Punkt irrte sie sich.
    Ich habe mehrmals versucht, Henriettas Worte im richtigen Ton vor dem Spiegel zu sprechen: »Sie wissen, Viktor, dass eine erste große Liebe oder das, was man für eine große Liebe hält, einen für das Leben prägt? Sie wissen das?« Henrietta hatte sich in diesem Satz mit Carolin Leitner und Millionen Liebenden eingebunden und damit ihre Einmaligkeit aufgegeben. Sie kämpfte nicht mehr um diese Prägung auf ihrer Haut, sie kämpfte um ihren Mann.

18 (Fortsetzung)
    E s war vor ungefähr zehn Jahren. Diese Niete – in dieser Hinsicht hatten Sie recht, Viktor – hat Carolin Leitner so ungeschickt beschattet, dass sie auch ihn in flagranti ertappte. Er gestand es mir damals nicht und schickte ganz naiv seine Rechnung. Frau Leitner hatte wohl seit Tagen beobachtet, dass der Idiot hinter ihr her schlich. Ein Nachbar, den er ganz plump gefragt hatte, hatte sie gewarnt. Eines Tages drehte sie sich auf der Straße um, ging schnurstracks auf ihn zu und fasste ihn an der Jacke. Sie war fürchterlich aggressiv und drohte, ihn als Stalker anzuzeigen. Er sah sich gezwungen, ihr seine Visitenkarte zu zeigen, gestand den Auftrag, schlicht und einfach: Er verriet mich.
    Frau Gerlach ließ die letzten Worte auf

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