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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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gehen. Sie stieß ein saures kleines Lachen aus und sprach trocken und schnell.
    Ein Engel hätte mich gelangweilt. Mein Mann war nie mittelmäßig, lieber Viktor. Und das mit der Fälschung ist mir egal. Von mir aus kann er auch alle anderen Prüfungen gefälscht haben.
    Sie nahm ihre Handtasche und ging zur Haustür. Mittelmäßig, dachte Viktor, ob Klara mich als mittelmäßig eingestuft hat?
    Er reichte Henrietta ihren Mantel, und als sie ihn zuknöpfte, streichelte er ihr leicht über die Schulter. Sie drehte sich um, hob den Kopf zu ihm, schweigend. Ihre grauen Augen, aus denen er so viel Schamgefühl und eine Art Flehen herauslas, hatten einen violetten Schimmer angenommen: Nein, beantwortete er die stumme Frage, ich verrate es niemandem, versprochen, auch Klara nicht. Und ich überlege, was wir machen können.
    Danke. Eine Sekunde lang hatte Viktor das Gefühl, sie wolle ihn umarmen. Er bückte sich herab, aber sie hatte sich schon umgedreht.
    Sie stapfte einige Stufen hinunter und wandte sich wieder zu ihm: Viktor, ich weiß nicht, wohin mein Mann damals das Dossier des Detektivs geräumt hat, falls er es nicht weggeworfen hat. Sie haben es nicht zufällig in der Praxis gefunden? Nein, sagte Viktor und hätte nicht sagen können, warum er log. Sie stieg jetzt einige Stufen rückwärts hinunter, sich an der Rampe haltend, als könnte sie sich nicht von Viktors Anblick lösen. Auf Wiedersehen, Henrietta, sagte er. Bis bald. Sie öffnete den Mund, als würde sie die zu ihr hinunterfließenden Worte inhalieren.

19
    A uf Wiedersehen, Henrietta, hatte der junge Spund gesagt. Was nahm er sich heraus, der kleine Mann, der ihr Sohn sein könnte? Henrietta! Dieser Vorname hatte ihr nie gefallen, noch weniger dessen Sinngehalt »Heim«, »Haus«, »Herrschaft«. In Viktors Mund verfärbte sich aber der Klang des Wortes und ebenfalls seine Bedeutung. Da spielten die Buchstaben eine Farandole auf der Zunge. Die drei Silben rollten zart wie Spitze. Dieser Mann hatte das Talent, das Besondere herauszuheben. Seine Stimme holte Unbekanntes und Wertvolles aus dem Unterschlupf. Den Ursinn ihres Namens mochte Henrietta nicht, er passte nur halb zu ihr. Ja, sie hielt gern die Zügel in der Hand, sie besorgte konsequent ihren Haushalt, hatte früher auch die Praxis geleitet, zwei Helferinnen im Schlepptau; trotz seines Rekords an Seitensprüngen stand ihr Mann, glaubten manche (die Naiven), unter ihrer Fuchtel, vielleicht war sie der Kopf der Familie, aber Gert war deren pulsierendes Herz. Alles drehte sich um ihn, sie war das Fundament, er war die Bronzestatue. Und wer schaut schon zum banalen Sockel des Denkmals? Beherrschen konnte sie nur sich selbst, und das immer weniger.
    Sie fühlte sich leicht wie ein Kind nach der Beichte. Die Enthüllung der Sünden ihres Mannes hatte sie halb befreit. Viktor würde auf jeden Fall helfen. Wie gern sie in die welkenden Blüten einer japanischen Kirsche auf dem Gehsteig trat. Wie freundlich ihr Blick die jungen Mädchen in Röcken streifte und die zwei Kinder, die abwechselnd an einem gemeinsamen Eis leckten. In ihrer imaginären Sammlung frankierte Henrietta eine Sondermarke: Eine elegante, schlanke Henrietta trug mit Schwung einen breiten Strohhut, ein leichtes Kleid, Stöckelschuhe. Sie bekam die Chance eines neuen Treffens mit Viktor. Es geschah bei einer Fete, denn beide hielten ein Sektglas, sie hatten den anderen den Rücken zugewandt und unterhielten sich verschwörerisch über eine Taktik, den Detektiv zu beseitigen.
    Sie trat auf einen Kaugummi und versuchte vergeblich, ihn von der Sohle zu streifen. Der spöttische Blick eines Passanten zog sie sofort nach unten. Sie befand sich jetzt allein mit ihrem Sektglas in einer tiefen Grube, sie würde nie mehr nach oben klettern können. Erdige Wände glitzerten um sie, kleine glänzenden Flocken bewegten sich heraus, Maden. Ein dicker Typ im Monteuranzug holte sie in die Realität zurück. Er kam aus einem Coffeeshop und hielt einen Pappbecher in der Hand. Sie lief ihm direkt gegen die Brust. Sie sagten gleichzeitig »sorry«, den Fleck auf ihrer Jacke versuchte sie mit einem Papiertaschentuch zu entfernen. Verdammte Mode des Coffee to go.
    Wo hatte sie den Wagen geparkt? Sie ging um die Ecke und flanierte an Schaufenstern entlang, schaute nach Kleidern, als hätte sie keine anderen Sorgen. Sie hatte auf einmal Lust, ein sehr schickes Kleid für das Pensionierungsfest ihres Manns zu kaufen, sie wollte nicht wie eine besiegte ältere

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