Der Gesang der Haut - Roman
Frau aussehen. Hätte Viktor sie begleitet, würde er sie jetzt sicher gut beraten. Alle Boutiquen machten hier auf jung und billig. Es wurde immer schwerer, Kleider für ihr Alter zu finden.
Sie betrat doch noch ein elegantes Geschäft, ließ ein paar Bügel die Stange entlanggleiten. Ein blumiger Leinenstoff gefiel ihr gut, nur gehörte er zu einem Trägerkleid, das gar nicht zu ihren blassen, schwabbeligen Oberarmen passte. Schon stakste eine Verkäuferin auf sie zu, ein dünnes Mädchen mit dunklem Lippenstift, und fragte, für sie zu nah und zu laut, ob es behilflich sein könne. Ein Kleid? Größe vierundvierzig? Hm … Ein einfaches Sommerkleid? Ein Kleid für einen besonderen Anlass? Eine Fete? Ein Hauskonzert? Also etwas Schickes. Die Verkäuferin wendete ihren Blick von dem Kaffeefleck mit den Papierfusseln ab. Wieselflink holte sie ein schwarz-weißes Musselinkleid hervor, ein Abendkleid, das viele Falten warf. Das Mädchen verschwand fast hinter dem langen Kleid, das es hochhielt. Ihr Kopf schaute schief hinter dem Stoff hervor. Sie lächelte: Probieren Sie es doch an. In der Umkleidekabine hätte Henrietta am liebsten die Augen geschlossen. Sie beobachtete, wie der Strumpfhosengummi ihren Bauch einschnitt, wie die Speckröllchen darüberquollen, wie die Orangenhaut an den Schenkeln sogar unter dem Nylon der Strumpfhosen noch sichtbar war wie auch die erschlafften Brüsten in dem etwas ausgeleierten BH , die Spitze des Dekolletés, die bräunliche Spalte zwischen den Brüsten, da, wo die Haut dunkel, grobkörnig an gerupfte Hühner erinnerte. Als sie in das Kleid hineingeschlüpft war und sich aus der Kabine traute, schrie die Verkäuferin mit routinierter Begeisterung auf, wie elegant es sei, wie vorteilhaft es sitze, Henrietta hasste das Wort vorteilhaft, das sie mit trügerisch gleichsetzte. Sie solle es sich nur mit anderen Schuhen vorstellen, piepste das Mädchen, weiße oder schwarze Sandalen mit Absätzen, hohe Absätze wären klasse, aber auch kleinere, und sogar Ballerinas könne man sich vorstellen, und das Dekolleté? Aber nein, es sei gar nicht zu tief, sie könnte darauf eine längere Kette tragen, schwarzer Modeschmuck wäre schön, alles sei möglich, warum nicht auch ein hübscher weißer Schal, Moment mal, da hätte sie auch … Henrietta sah den dunklen Mund der Verkäuferin auf- und zuklappen und überlegte sich, wie oft sie Kleider in einem Geschäft anprobiert hatte, wie oft eine hofierende Fachverkäuferin sie beraten, ihr zugesichert hatte, dass das anprobierte Teil sie wunderbar kleide, und wie dann Gert zu Hause aufgelacht hatte, am Anfang nur belustigt, später spöttisch, ob sie wohl alle Tassen im Schrank hätte, eine solche Farbe, ein solcher Schnitt und so weiter. Und wie oft sie sich kleinlaut im Spiegel angeschaut und verflucht hatte, auf die Verkäuferin gehört zu haben, oh ja, prustete Gert, die Bluse passe wie die Faust aufs Auge, entstellt sei sie von diesem lächerlich violetten Muster. Sie wollte jetzt einfach bei ihrer alten schwarzen Hose bleiben, vielleicht eine dezente Seidenbluse dazu, die bekäme sie im Kaufhaus, damit konnte man nichts falsch machen. Sie sollte schnell in der Kabine verschwinden, schnell in ihre alten Klamotten schlüpfen, da fühlte sie sich zu Hause, keine neuen Experimente wagen, für einen einzigen Abend nicht so viel Geld ausgeben. Und doch hielt sie etwas zurück, nicht das aufdringliche Gehabe der Verkäuferin, die zurückkam und ihr mit einem weißen Musselinschal zuwedelte, schließlich machte das Mädchen nur seine Arbeit, ein Kind noch, mit dem sie Milde walten lassen sollte, nein, es war eine wedelnde Erinnerung, die aus dem Abgrund heraufstieg und mit dem schwarz-weißen Abendkleid um sie flatterte. Eine Rückblende auf ihr damaliges Wagnis. Ein junger Gert stand vor ihr. Sie trafen sich bei der Party eines befreundeten Pärchens, er, weißes Hemd, dunkle Jacke, schlecht rasiert, damals war ein Drei-Tage-Bart nicht Mode, sondern nur schlampig, der Mann war anziehend und abstoßend zugleich, ein Künstler vielleicht, die strenge junge Henrietta, dreiundzwanzig und noch Jungfrau, ein genügsames Mädchen mit einem nüchternen Blick für die bescheidenen Vergnügen und großen Kümmernisse des Lebens. Er roch nach Zigarillos, ließ seinen Blick über die Pin-ups des Abends streifen, die rustikale Henrietta lief durch das Leben wie durch ein Kaufhaus, sie erkannte sofort, was Nippes war, ließ sich nicht beeinflussen, war streng mit
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