Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
ihre Bahnen ziehen, allerdings bedeutend angespannter.
Raimondi hatte es sich eine Reihe vor Kilian inmitten des dunklen Großen Saals bequem gemacht. Neben ihm ein Brett, zwischen zwei Reihen geklemmt, auf dem Telefon, ein Mikrophon, eine kleine Lampe und seine Unterlagen ausgebreitet waren. Die Regieassistentin Franziska war nicht zu sehen. Kilian nahm an, dass sie sich in den engen Souffleurkasten geflüchtet hatte. Er hatte sie heute noch gar nicht gesehen. Das war untypisch. Normalerweise war sie eine der Ersten, die zur Probe erschienen.
Der Orchestergraben füllte sich. Die ersten Instrumente waren zu hören; vielmehr Töne, die die Musiker spielten, um sich und das Instrument für die anstehende Hauptprobe warm zu machen. Die Kakophonie nahm stetig zu; ein Zeichen, dass bald alle auf ihren Plätzen waren.
Stiller betrat sein Podium über einen Seiteneingang des Orchestergrabens. Er breitete die Partitur vor sich auf dem Notenständer aus, nahm den Dirigentenstab heraus und bog ihn leicht. Dann drehte er sich zu Raimondi um, fragte stumm, ob er so weit sei. Raimondi nickte, betätigte das Mikrophon und gab der Inspizientin Jeanne die Anweisung, die Bühne zu räumen. Nach der Ouvertüre würde die erste Szene im ersten Akt geprobt. Auftritt Leporello, danach Donna Anna,
Don Giovanni
und zum Schluss der Komtur. Die betreffenden Solisten auf Position.
Das Licht auf der Bühne erlosch. Bis auf das gedämmte Licht aus dem Orchestergraben und den Lampenschein an Raimondis Arbeitsbrett lagen Bühne und Zuschauerraum in vollkommener Dunkelheit. Ein bestimmendes Räuspern und das dreimalige Klacken auf Holz riefen die Musiker zur Aufmerksamkeit. Alles verstummte in erwartungsvoller Stille.
Ein zweimaliger Paukenwirbel, unterstützt von Bläsern und Streichern, zerstob überfallartig den Frieden. Kilian hatte die Ouvertüre noch nicht gehört. Er zuckte zurück, schaute, ob es sich um einen Fehlstart des Orchesters gehandelt haben könnte. Dem war offenbar nicht so, da auf den furiosen Beginn ein sanftes Andante von Flöten, Klarinetten und Streichern folgte. Mit ihm zog langsam ein schummriges Nachtlicht auf, das die Konturen des Bühnenbildes erahnen ließ. Mit etwas Mühe erkannte Kilian den rückwärtigen zweistöckigen Aufbau mit den jeweiligen Umläufen; darüber die beleuchtete nächtliche Skyline einer Großstadt, daneben zwei große elektronische Displays. Im Zentrum der Bühne stand die rote Couch, auf der ein Mann, nur mit Boxershorts bekleidet, schlief.
Die dynamische Ouvertüre nahm die gesamte Dreistundenoper in sechs Minuten vorweg. Kilian hörte musikalische Themen, die an Gefahr, Tod, Verführung und Rache erinnerten, aber auch an Humor, Hinterlist, Lust, Triumph und Niedergang.
Die Ouvertüre neigte sich dem Ende zu, ein müder Leporello erwachte, schlurfte, sich am Hintern kratzend, in eine Ecke, schaltete das Licht an und starrte in einen Badezimmerspiegel. Kilian erkannte in ihm Roman, der den übernächtigten Helfer
Don Giovanni
s schauspielerisch überzeugend einführte.
Mit der ersten Arie
Notte e giorno faticar
begann Leporello sich zu kämmen und anzukleiden. Sein Smoking hing wohl präpariert auf einem Kleiderbügel, der an der noch ausgeschalteten Neonwerbung Leporello’s hing. Roman sang sein zweites rebellisches
Voglio far il gentiluomo
, bereits vollends angekleidet und lässig die Beine übergeschlagen, auf der Couch. Dieser Leporello hatte mit der ursprünglichen Anlage der Figur nichts mehr gemein. Statt eines abgerissenen Dienstboten war dieser Leporello ein zivilisierter und gut gekleideter, seiner Dienste überdrüssiger und gelangweilter Bohemien, und er verströmte Lebenserfahrung und Stil. Kilian musste an einen distinguierten englischen Butler denken, der bei einer neureichen amerikanischen Familie in Diensten steht.
Daher verkroch er sich auch nicht mehr unter die Treppe, als seine Arie zu Ende ging und
Don Giovanni
, von Donna Anna verfolgt, die Bühne betreten sollte. Er blieb, das Bein übergeschlagen, auf der Couch sitzen, stützte sein Kinn auf eine Hand und schaute ins Publikum, als gingen ihn die folgenden dramatischen Ereignisse überhaupt nichts an.
Kilian vermochte in diesem Leporello den anfangs schüchternen Polen Roman nicht mehr wiederzuerkennen. Raimondi hatte hart mit ihm gearbeitet und dem Charakter seine ganz persönliche Handschrift gegeben.
Ein unruhiger Spot zerschnitt parallel zum musikalischen Thema vom hinteren Ende des Großen Saals her die
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